»Du bist dran, Jack. Rein mit dir.«
Ich rührte mich nicht. Ich blieb an die Wand gelehnt stehen und sagte: »Irgendjemand muss ihn holen.«
»Nicht jetzt. Der Wind ist nicht beständig, Jack. Er kann sich jeden Moment wieder legen.«
»Aber Charley lebt.«
»Nicht mehr lange.«
»Jemand muss ihn holen«, sagte ich.
»Jack, du weißt so gut wie ich, in was für einer Lage wir sind«, sagte Ricky. Jetzt sprach er mit der Stimme der Vernunft, ruhig und logisch. »Wir hatten entsetzliche Verluste. Wir können es nicht riskieren, noch jemanden zu verlieren. Bis jemand bei Charley ist, ist er längst tot. Vielleicht ist er jetzt schon tot. Los, geh endlich in die Schleuse.«
Ich schätzte meine körperliche Verfassung ein, spürte meinen Atem, meine Brust, meine große Erschöpfung. Ich konnte jetzt nicht da raus. Nicht in meinem derzeitigen Zustand.
Also trat ich in die Schleuse.
Mit lautem Brausen drückte das Gebläse mir die Haare platt, ließ meine Kleidung flattern und säuberte mich von den schwarzen Partikeln. Augenblicklich konnte ich wieder besser sehen. Ich atmete leichter. Jetzt wehte der Wind von unten. Ich streckte die Hand aus und sah, wie sich das Schwarz in Blassgrau verwandelte, dann die normale Hautfarbe wieder zum Vorschein kam.
Jetzt wurde ich von den Seiten angeblasen. Ich holte tief Luft. Die Nadelstiche auf der Haut waren nicht mehr so schmerzhaft. Entweder spürte ich sie nicht mehr so deutlich, oder sie wurden weggetrieben. Mein Kopf wurde etwas klarer. Ich holte noch mal tief Luft. Ich fühlte mich nicht gut, aber schon besser.
Die Glastüren öffneten sich. Ricky streckte mir die Arme entgegen. »Jack. Gott sei Dank, dass du in Sicherheit bist.«
Ich antwortete nicht. Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war.
»Jack .«
Die Glastüren zischten zu und rasteten mit einem Plonk ein. »Ich lasse ihn nicht da draußen«, sagte ich.
»Was hast du denn vor? Du kannst ihn nicht tragen, er ist zu schwer. Wie willst du das anstellen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich lasse ihn nicht einfach da draußen zurück, Ricky.«
Und ich ging wieder hinaus.
Natürlich tat ich genau das, was Ricky wollte - genau das, was er von mir erwartet hatte -, aber das war mir damals nicht klar. Und selbst wenn es mir jemand gesagt hätte, so viel psychologisches Feingefühl hätte ich ihm nicht zugetraut. Ricky war im Umgang mit Menschen ziemlich durchschaubar. Aber diesmal war ich auf ihn reingefallen.
6. Tag, 16.22 Uhr
Der Wind blies kräftig. Von den Schwärmen fehlte jede Spur, und ich gelangte ohne Probleme zu den Wagen. Ich hatte kein Headset mehr, daher blieben mir Rickys Bemerkungen erspart.
Die hintere Tür des Toyota auf der Beifahrerseite stand offen. Charley lag auf dem Rücken, reglos. Ich brauchte einen Moment, um zu sehen, dass er noch atmete, wenn auch flach. Mit großer Mühe gelang es mir, ihn in eine sitzende Position zu hieven. Er starrte mich mit stumpfen Augen an. Seine Lippen waren blau, seine Haut kreidig grau. Eine Träne lief ihm über die Wange. Sein Mund bewegte sich.
»Nicht sprechen«, sagte ich. »Spar dir deine Energie.« Ächzend zog ich ihn an den Rand der Rückbank, zur Tür, und schwang seine Beine herum, sodass er nach draußen schaute. Charley war ein massiger Kerl, über einen Meter achtzig groß und mindestens zwanzig Pfund schwerer als ich. Ich wusste, dass ich ihn nicht würde zurücktragen können. Aber dann sah ich hinten im Laderaum des Toyota Davids Motocross-Maschine. Damit müsste es gehen.
»Charley, hörst du mich?«
Ein fast unmerkliches Nicken.
»Kannst du aufstehen?«
Nichts. Keine Reaktion. Er blickte mich nicht einmal an; er starrte ins Leere.
»Charley«, sagte ich, »meinst du, du kannst stehen?«
Er nickte wieder, streckte dann seinen Körper, sodass er vom Sitz rutschte und mit den Füßen auf dem Boden landete. Er stand wackelig da, mit zitternden Beinen, und sackte dann gegen mich, hielt sich an mir fest, damit er nicht hinfiel. Unter seinem Gewicht ging ich in die Knie.
»Okay, Charley ...« Ich schob ihn wieder zum Wagen und setzte ihn auf das Trittbrett. »Nicht weglaufen, ja?«
Ich ließ ihn los, und er blieb sitzen. Er starrte noch immer blicklos vor sich hin.
»Bin gleich wieder da.«
Ich ging zur Rückseite des Land Cruiser und öffnete die Heckklappe. Eine Motocross-Maschine, und was für eine - die gepflegteste, die ich je gesehen hatte. Sie war in eine dicke Plane gehüllt. Und sie war nach dem Gebrauch geputzt worden. Das war typisch David, dachte ich. Er war immer so sauber, so ordentlich gewesen.
Ich schob das Motorrad aus dem Wagen und stellte es auf den Boden. Der Zündschlüssel steckte nicht. Ich ging zur Beifahrertür des Toyota und öffnete sie. Vorne war alles makellos und übersichtlich angeordnet. Am Armaturenbrett angebracht waren ein mit Sauggummi haftender Notizblock, eine Handy-Halterung und ein kleiner Haken, an dem ein Telefon-Headset hing. Ich öffnete das Handschuhfach und sah, dass auch hier alles akkurat an seinem Platz war. Autopapiere in einer Hülle, unter einer kleinen Plastikablage mit drei Abteilungen für Lippensalbe, Kleenex, Pflaster. Keine Schlüssel. Dann entdeckte ich zwischen den Sitzen einen Kasten für CDs, und darunter eine verschlossene Kassette. Sie hatte das gleiche Schloss wie die Zündung. Wahrscheinlich ließ es sich mit dem Zündschlüssel öffnen.
Ich schlug mit dem Handballen gegen die Kassette und hörte etwas Metallisches darin klimpern. Klang ganz nach einem kleinen Schlüssel. Zum Beispiel ein Motorradschlüssel. Jedenfalls war es irgendetwas aus Metall.
Wo waren Davids Schlüssel? Ich fragte mich, ob Vince auch David bei seiner Ankunft die Schlüssel abgenommen hatte, so wie mir meine. Falls ja, dann waren die Schlüssel im Labor. Das würde mir nichts nützen.
Ich blickte zum Laborgebäude und überlegte, ob ich zurückgehen sollte, um die Schlüssel zu holen. Doch da merkte ich, dass der Wind nicht mehr ganz so stark blies. Es wehte zwar noch immer eine Schicht Sand über den Boden, aber weniger kräftig.
Na toll, dachte ich. Ausgerechnet jetzt.
Da die Zeit drängte, beschloss ich, von der Idee mit dem Motorrad Abstand zu nehmen. Vielleicht fand ich ja im Depot irgendetwas, womit ich Charley zum Labor transportieren konnte. Ich konnte mich zwar an nichts erinnern, aber ich ging trotzdem nachsehen. Als ich vorsichtig eintrat, hörte ich ein schlagendes Geräusch. Es war die hintere Tür, die im Wind auf- und zuflog. Rosies Leiche lag direkt an der Schwelle und wurde jedes Mal, wenn die Tür aufschwang, hell beschienen. Ihre Haut war mit der gleichen milchigen Schicht bedeckt, wie ich es bei dem Kaninchen gesehen hatte. Aber ich ging nicht hin, um es mir aus der Nähe anzuschauen. Rasch durchstöberte ich die Regale, öffnete die Geräteschränke, warf einen Blick hinter gestapelte Kisten. Ich fand ein aus Latten zusammengezimmertes Brett auf kleinen Rollen, wahrscheinlich zum Möbeltransport. Aber im Sand war es nicht zu gebrauchen.
Ich ging wieder nach draußen unter den Wellblechunterstand und eilte zu dem Toyota. Mir blieb nichts anderes übrig, als Charley irgendwie zum Laborgebäude zu schleppen. Vielleicht schaffte ich es ja, wenn er einen Teil seines Gewichts abstützen konnte. Vielleicht fühlte er sich inzwischen ja besser, dachte ich. Vielleicht war er wieder etwas stärker.
Doch ein Blick in sein Gesicht verriet mir, dass dem nicht so war. Wenn überhaupt, war er noch schwächer.
»Verdammt, Charley, was soll ich bloß mit dir machen?«
Er gab keine Antwort.
»Ich kann dich nicht tragen. Und David hat seine Schlüssel nicht im Wagen gelassen, wir sehen also ziemlich alt aus .«
Ich hielt inne.
Und wenn David sich mal aus seinem Wagen ausgeschlossen hatte? Er als Ingenieur hatte bestimmt für solche Eventualitäten vorgesorgt. Auch wenn der Fall wahrscheinlich nie eingetreten war, David wäre das Risiko niemals eingegangen. Er hätte nie ein Auto angehalten, um nach einem Drahtbügel zu fragen. Nein, David doch nicht.