David hätte einen Ersatzschlüssel versteckt. Wahrscheinlich in einem von diesen magnetischen Schlüsselkästchen. Ich wollte mich schon auf den Rücken legen, um unter den Wagen zu schauen, als mir einfiel, dass David sich nie die Sachen schmutzig gemacht hätte, nur um einen Schlüssel hervorzuholen. Er hätte sich ein cleveres Versteck gesucht, an das er trotzdem bequem herankam.
Also fuhr ich mit den Fingern an der Innenseite der vorderen Stoßstange entlang. Nichts. Ich ging zur hinteren Stoßstange, tat das Gleiche. Nichts. Ich tastete auf beiden Seiten des Wagens unter den Trittbrettern. Nichts. Kein Magnetkästchen, kein Schlüssel. Ich konnte es nicht fassen, also legte ich mich hin und sah unter dem Wagen nach, ob ich vielleicht irgendeine Strebe oder so mit den Fingern verpasst hatte.
Nein, nichts. Kein Schlüssel.
Ich schüttelte verwundert den Kopf. Das Versteck musste aus Stahl sein, damit das Magnetkästchen haften blieb. Und es musste vor der Witterung geschützt sein. Aus diesem Grund versteckte fast jeder seinen Ersatzschlüssel in der Stoßstange.
David hatte das nicht getan.
Wo konnte man sonst noch einen Schlüssel hintun?
Ich ging wieder um den Wagen herum, betrachtete das glatte Blech. Ich fuhr mit den Fingern um die Öffnung des Kühlergrills herum und tastete unter der Einbuchtung für das hintere Nummernschild.
Kein Schlüssel.
Ich fing an zu schwitzen. Nicht nur vor Anspannung: Inzwischen spürte ich deutlich, dass der Wind schwächer wurde. Ich ging zurück zu Charley, der noch immer auf dem Trittbrett saß.
»Wie geht's dir, Charley?« «
Er antwortete nicht, zuckte nur mit den Schultern. Ich nahm sein Headset ab und setzte es auf. Ich hörte Rauschen und leise Stimmen. Es hörte sich nach Ricky und Bobby an, und es hörte sich nach einem Streit an. Ich zog das Mikro näher an die Lippen und sagte: »Leute? Sprecht mit mir.«
Pause. Bobby, überrascht: »Jack?«
»Genau .«
»Jack, du kannst nicht da draußen bleiben. Der Wind hat in den letzten Minuten zunehmend nachgelassen. Es sind jetzt nur noch zehn Knoten.«
»Okay .«
»Jack, du musst zurückkommen.«
»Geht noch nicht.«
»Unter sieben Knoten können sich die Schwärme bewegen.«
»Okay .«
Ricky: »Was soll das heißen, okay? Verdammt, Jack, kommst du nun oder nicht?«
»Ich kann Charley nicht tragen.«
»Das hast du doch vorher gewusst.«
»Klar.«
»Jack. Was zum Teufel machst du da?«
Ich hörte das Surren der Videokamera in der Ecke des Unterstandes. Ich schaute über das Dach des Wagens und sah, wie sich das Objektiv drehte, als es sich auf mich scharf stellte. Der Toyota war ein ziemlich großes Auto, er versperrte mir fast den Blick auf die Kamera. Und die Skihalterung machte ihn noch größer. Ich fragte mich diffus, warum David eine Skihalterung hatte, wo er doch nie Ski gefahren war; er hatte Skifahren wegen der Kälte nicht leiden können. Die Halterung musste zur Grundausstattung des Wagens gehören und .
Ich fluchte. Es war so nahe liegend.
Es war die einzige Stelle, wo ich nicht nachgesehen hatte. Ich sprang auf das Trittbrett und schaute auf das Wagendach. Ich fuhr mit den Fingern an der Skihalterung und an den parallelen Schienen entlang, die an das Dach geschraubt waren. Meine Finger stießen auf Isolierband an der schwarzen Halterung. Ich zog das Band ab und sah einen silbernen Schlüssel.
»Jack? Neun Knoten.«
»Okay.«
Ich sprang vom Trittbrett und kletterte auf den Fahrersitz. Ich steckte den Schlüssel in die Kassette und drehte ihn. Sie öffnete sich. Drinnen lag ein kleiner, gelber Schlüssel.
»Jack? Was machst du da?«
Ich eilte zum Heck des Wagens. Ich steckte den gelben Schlüssel in die Zündung des Motorrads. Ich setzte mich auf die Maschine und ließ sie an. Der Motor dröhnte laut unter dem Wellblechdach.
»Jack?«
Ich manövrierte das Motorrad im Sitzen auf die Seite des Wagens, wo Charley war. Jetzt wurde es knifflig. Das Motorrad hatte keinen Kippständer; ich schob es, so nah es ging, an Charley heran und versuchte, ihn dann so weit abzustützen, dass er hinter mir aufsteigen konnte, während ich auf der Maschine blieb und sie aufrecht hielt. Zum Glück verstand er, was ich wollte. Schließlich hatte er es geschafft, und ich sagte, er solle sich an mir festhalten.
Bobby Lembeck: »Jack? Sie sind da.«
»Wo?«
»Südseite. Kommen auf dich zu.«
»Alles klar.«
Ich ließ den Motor aufheulen und stieß die Beifahrertür zu. Und ich blieb genau da, wo ich war.
»Jack?«
Ricky: »Was ist denn bloß los mit ihm? Er kennt doch die Gefahr.«
Bobby: »Ich weiß.«
»Er bleibt einfach da sitzen.«
Charley hatte seine Hände um meine Taille gelegt. Sein Kopf lag an meiner Schulter. Ich konnte seinen rasselnden Atem hören. Ich sagte: »Gut festhalten, Charley.« Er nickte.
Ricky: »Jack? Was machst du denn?«
Dann sagte Charley an meinem Ohr mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war: »Dämlicher Idiot.«
»Ja.« Ich nickte. Ich wartete. Ich konnte jetzt sehen, wie sie um das Gebäude herumkamen. Diesmal waren es neun Schwärme. Und sie steuerten in einer V-Formation direkt auf mich zu. Ihr eigenes Schwarmverhalten.
Neun Schwärme, dachte ich. Bald würden es dreißig Schwärme sein, und dann zweihundert .
Bobby: »Jack, siehst du sie?«
»Ich sehe sie.« Natürlich sah ich sie.
Und natürlich waren sie anders als vorher. Sie waren jetzt dichter, die Säulen dicker und fester. Diese Schwärme wogen keine drei Pfund mehr. Ich schätzte sie eher auf zehn oder zwanzig Pfund. Vielleicht noch mehr. Vielleicht dreißig Pfund. Jetzt hatten sie richtig Gewicht und richtig Masse.
Ich wartete. Ich blieb, wo ich war. Irgendein separater Teil meines Gehirns fragte sich, was die Formation machen würde, wenn sie bei mir war. Würden die Schwärme mich umkreisen? Würden ein paar von ihnen zurückbleiben und warten? Irritierte sie das laute Motorrad?
Nicht im Geringsten - sie kamen direkt auf mich zu, machten aus dem V eine Linie, formierten sich dann zu einer Art umgedrehtem V. Ich hörte das tiefe, vibrierende Summen. Bei so vielen Schwärmen war es wesentlich lauter.
Die wirbelnden Säulen waren zwanzig Meter von mir entfernt. Dann zehn. Konnten sie sich jetzt schneller fortbewegen, oder bildete ich mir das bloß ein? Ich wartete, bis sie fast bei mir waren, dann gab ich Gas und raste los. Ich fuhr schnurstracks durch den Anführerschwarm in das Schwarze hinein und wieder hinaus, und dann brauste ich auf die Tür der Energiestation zu jagte holpernd über die Wüste, wagte nicht, nach hinten zu blicken. Es war eine wilde Fahrt, und sie dauerte nur wenige Sekunden. Als wir an der Station waren, ließ ich die Maschine fallen, schob meine Schulter unter Charleys Arm und wankte die letzten zwei, drei Schritte zur Tür.
Die Schwärme waren noch gut fünfzig Meter von der Tür entfernt, als ich den Türknauf drehte, einen Fuß in den Spalt schob und sie dann ganz aufdrückte. Dabei verlor ich das Gleichgewicht, und Charley und ich fielen mehr oder weniger durch die Tür auf den Beton. Die Tür schwang zurück und knallte gegen unsere Beine, die noch nach draußen ragten. Ich spürte einen heftigen Schmerz an den Knöcheln - doch schlimmer war, dass sie noch immer einen Spalt offen war, durch unsere Beine blockiert. Durch die Öffnung konnte ich die Schwärme näher kommen sehen.
Ich rappelte mich hoch und schleifte Charleys reglosen Körper in den Raum. Die Tür schloss sich, aber ich wusste, dass es die Brandschutztür war, und die war nicht luftdicht. Kein Hindernis für Nanopartikel. Ich musste uns beide in die Luftschleuse schaffen. Wir würden erst dann in Sicherheit sein, wenn sich die ersten Glastüren hinter uns schlossen.