Und auf eines war Verlass: Ein großer, warmer Bakteriensud würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einem Virus kontaminiert werden, und wenn das Virus die Bakterien nicht infizieren konnte, dann würde es zu einer Form mutieren, die dazu im Stande war. Darauf konnte man sich verlassen, so wie man sich darauf verlassen konnte, in einer Zuckerdose, die zu lange auf dem Küchentisch gestanden hatte, Ameisen zu finden.
Es war verblüffend, wie wenig wir über die Evolution wussten, wo sie doch schon seit hundertfünfzig Jahren erforscht wurde. Die alten Vorstellungen, dass nur die Stärksten überlebten, waren seit langem überholt. Sie waren zu eindimensional. Die Forscher des neunzehnten Jahrhunderts sahen in der Evolution sozusagen die ungezähmte, brutale Natur, denn sie stellten sich eine Welt vor, in der die stärkeren Tiere die schwächeren töteten. Sie zogen nicht in Betracht, dass die schwächeren zwangsläufig stärker wurden oder sich in irgendeiner Weise zur Wehr setzten. Was sie natürlich immer tun.
Neuere Vorstellungen betonten die Wechselwirkung zwischen sich fortwährend entwickelnden Formen. Manche verglichen die Evolution mit einem Wettrüsten, womit sie eine ständig eskalierende Interaktion meinten. Eine Pflanze, die von einem Schädling befallen wird, entwickelt in ihren Blättern ein Pestizid. Der Schädling verändert sich daraufhin so, dass er das Pestizid verträgt, also bringt die Pflanze ein stärkeres Pestizid hervor. Und so weiter.
Andere bezeichneten dieses Muster als Koevolution, zwei oder mehr Lebensformen entwickeln sich gleichzeitig und dulden sich dann gegenseitig. Eine Pflanze, die von Ameisen befallen wird, verändert sich, toleriert die Ameisen daraufhin und fängt sogar an, speziell für sie Nahrung auf den Blättern zu produzieren. Im Gegenzug schützen diese Ameisen die Pflanze, indem sie jedes Tier beißen, das die Blätter fressen will. Schon bald können weder Pflanze noch Ameisenart ohne einander überleben.
Dieses Muster war so grundlegend, dass viele Leute darin den eigentlichen Kern der Evolution sahen. Für sie waren Parasitismus und Symbiose die wahre Basis für evolutionäre Veränderung. Diese Prozesse lagen jeder Evolution zu Grunde und waren von Anfang an wirksam gewesen. Lynn Margulies trat den berühmten Beweis an, dass Bakterien ursprünglich einen Zellkern durch das Verschlingen anderer Bakterien entwickelt hatten.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert stand nun fest, dass Koe-volution sich nicht auf zwei Lebewesen beschränkte, die eine Art isolierten Paartanz aufführten. Es gab koevolutionäre Muster mit drei, zehn oder n Lebensformen, wobei n jede beliebige Zahl sein konnte. Ein Maisfeld, auf dem ja alle möglichen Pflanzen wuchsen, wurde von vielen Schädlingen befallen und entwarf viele Verteidigungsstrategien. Die Pflanzen konkurrierten mit dem Unkraut; die Schädlinge konkurrierten mit anderen Schädlingen; größere Tiere fraßen sowohl die Pflanzen als auch die Schädlinge. Das Ergebnis dieser komplexen Interaktion veränderte sich stets, entwickelte sich stets weiter.
Und es war naturgemäß nicht vorhersagbar.
Letztlich war das der Grund, warum ich so wütend auf Ricky war.
Er hätte um die Gefahren wissen müssen, als er merkte, dass er die Schwärme nicht kontrollieren konnte. Es war Wahnsinn, tatenlos zuzusehen, wie sie sich unabhängig weiterentwickelten. Ricky war ein heller Kopf; er kannte sich mit genetischen Algorithmen aus; er kannte den biologischen Hintergrund für die aktuellen Trends im Programmieren.
Er wusste, dass Selbstorganisation unvermeidlich war.
Er wusste, dass emergente Formen unberechenbar waren.
Er wusste, dass Evolution Interaktion mit n Formen bedeuten konnte.
Er wusste all das, und er hatte es trotzdem zugelassen.
Er oder Julia.
Ich sah nach Charley. Er schlief noch in seinem Zimmer, ausgestreckt auf dem Bett. Bobby Lembeck kam vorbei. »Wie lange schläft er schon?«
»Seit du ihn geholt hast. Gut drei Stunden.«
»Meinst du, wir sollten ihn wecken, um festzustellen, ob es ihm besser geht?«
»Nee, lass ihn schlafen. Wir können ihn nach dem Essen untersuchen.«
»Wann essen wir denn?«
»In einer halben Stunde.« Bobby Lembeck lachte. »Ich koche.«
Das erinnerte mich daran, dass ich um die Abendessenszeit zu Hause anrufen wollte, also ging ich in mein Zimmer und wählte die Nummer.
Ellen meldete sich. »Hallo? Was ist denn!« Sie klang gehetzt. Im Hintergrund hörte ich Amanda schreien und Eric Nicole anbrüllen. Ellen sagte: »Nicole, lass deinen Bruder in Ruhe!«
Ich sagte: »Hi, Ellen.«
»Oh, Gott sei Dank«, sagte sie. »Du musst mit deiner Tochter sprechen.«
»Was ist denn los?«
»Moment. Nicole, dein Vater.« Ich sah im Geiste, wie sie ihr den Hörer entgegenstreckte.
Dann eine Pause. »Hi, Dad.«
»Was ist denn bei euch los, Nic?«
»Nichts. Eric benimmt sich unmöglich.« Sachlich.
»Nic, ich möchte wissen, was du mit deinem Bruder gemacht hast.«
»Dad.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. Ich wusste, dass sie die hohle Hand über den Hörer hielt. »Tante Ellen ist nicht sehr nett.«
»Das hab ich gehört«, sagte Ellen im Hintergrund. Aber wenigstens schrie Amanda nicht mehr; sie war hochgenommen worden.
»Nicole«, sagte ich. »Du bist die Älteste, ich erwarte von dir, dass du dich mit deinem Bruder verträgst, wenn ich nicht da bin.«
»Will ich ja auch, Dad. Aber er ist ein Riesenaffenarsch!«
Aus dem Hintergrund: »Bin ich nicht! Blöde Sau!«
»Dad. Da hörst du, was ich durchmache.«
Eric: »Du kannst mich mal, Pissnelke.«
Ich blickte auf den Monitor vor mir. Er zeigte die Wüste draußen, rotierende Bilder von allen Überwachungskameras. Eine Kamera zeigte das Motorrad, das vor der Tür zur Energiestation auf der Seite lag. Eine andere das Depot von außen, wo die Tür auf- und zuklappte und drinnen die Umrisse von Rosies Leichnam zu erkennen waren. Zwei Menschen waren heute gestorben. Ich auch beinahe. Und meine Familie, die gestern noch das Wichtigste in meinem Leben gewesen war, kam mir jetzt weit weg und unbedeutend vor.
»Es ist ganz einfach, Dad«, sagte Nicole jetzt, in ihrer vernünftigsten Erwachsenenstimme. »Ich komme mit Tante Ellen vom Einkaufen nach Hause, ich hab eine tolle Bluse für die Theatervorführung gekriegt, und auf einmal kommt Eric in mein Zimmer und schmeißt meine ganzen Bücher auf die Erde. Ich hab natürlich gesagt, er soll alles wieder aufräumen. Er sagt, nein, und hat mich F., du weißt schon, genannt, also hab ich ihn in den Hintern getreten, nicht sehr fest, und ihm seinen G.I. Joe weggenommen und versteckt. Mehr nicht.«
Ich sagte: »Du hast ihm seinen G.I. Joe weggenommen?« G.I. Joe war Erics Ein und Alles. Er sprach mit G.I. Joe, und wenn er schlief, lag G.I. Joe auf dem Kopfkissen neben ihm.
»Er kann ihn wiederhaben«, sagte sie, »wenn er meine Bücher wieder aufgehoben hat.«
»Nic .«
»Dad, er hat das Wort mit F zu mir gesagt.«
»Gib ihm seinen G.I. Joe zurück.«
Auf dem Monitor erschienen jetzt nacheinander die Bilder von den verschiedenen Kameras. Jede Aufnahme war ein oder zwei Sekunden zu sehen. Ich wartete, dass das Bild vom Depot wieder eingeblendet wurde. Ich hatte so ein ungutes Gefühl. Irgendwas stimmte da nicht.
»Dad, das ist ungerecht.«
»Nic, du bist nicht seine Mutter .«
»Ach so, ja, die war ja auch mindestens fünf Sekunden hier.«
»Sie war zu Hause? Mom war da?«
»Aber dann, wer hätte das gedacht, musste sie gleich wieder weg. Sie musste einen Flug kriegen.«
»Aha. Nicole, hör bitte auf Ellen ...«
»Dad, ich sage dir, sie ist einfach ...«
»Weil sie die Verantwortung hat, bis ich wiederkomme. Also, wenn sie dir sagt, was du tun sollst, dann tust du es.«