»Dad. Ich finde das unzumutbar.« Ihre Geschworenenstimme.
»Tja, Mäuschen, aber so wird's gemacht.«
»Aber mein Problem .«
»Nicole. So wird's gemacht. Bis ich wieder da bin.«
»Wann kommst du denn?«
»Wahrscheinlich morgen.«
»Okay.«
»Also. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Dad. Ich krieg hier wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch .«
»Ich besuch dich auch in der Nervenheilanstalt, sobald ich zurück bin, versprochen.«
»Sehr witzig.«
»Gib mir mal Eric.«
Ich hatte ein kurzes Gespräch mit Eric, der mehrmals betonte, dass das alles gemein sei. Ich sagte, dass er Nicoles Bücher aufheben solle. Er erwiderte, er habe sie gar nicht runtergeschmissen, es sei ein Versehen gewesen. Ich sagte, er solle sie trotzdem aufheben. Dann sprach ich kurz mit Ellen. Ich munterte sie auf, so gut ich konnte.
Während des Gesprächs erschien plötzlich wieder ein Bild von der Überwachungskamera, die auf das Depot gerichtet war. Und wieder sah ich die pendelnde Tür und die Außenseite des Gebäudes. Es lag auf einer kleinen Erhöhung; vier Holzstufen führten von der Tür nach unten auf die ebene Erde. Aber alles sah ganz normal aus. Ich wusste nicht, was mich gewurmt hatte.
Und dann merkte ich es.
Davids Leichnam war nicht da. Er war nicht im Bild. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie David zur Tür hinausgerutscht war, außer Sicht, er müsste also draußen liegen. Bei dem leichten Gefälle könnte er ein paar Meter von der Tür weggerollt sein, aber mehr nicht.
Keine Leiche.
Aber vielleicht täuschte ich mich ja. Oder vielleicht gab es doch noch Kojoten. So oder so, das Kamerabild hatte sich schon wieder geändert. Ich würde eine weitere Runde abwarten müssen, um es noch mal zu sehen. Ich beschloss, nicht zu warten. Wenn Davids Leichnam verschwunden war, dann musste ich mich eben damit abfinden.
Es war kurz vor sieben, als wir uns in der kleinen Küche im Wohnmodul zum Essen an den Tisch setzten. Bobby stellte Teller mit Ravioli und gemischtem Gemüse auf den Tisch. Da ich lange genug Hausmann gewesen war, erkannte ich die Tiefkühlkostsorten, die er verwendet hatte. »Ich finde ja, die Ravioli von Contadina sind besser.«
Bobby zuckte die Achseln. »Ich geh zum Kühlschrank und guck, was da ist.«
Ich war überraschend hungrig. Ich aß meinen Teller leer.
»So schlecht kann's ja nicht geschmeckt haben«, sagte Bob-by.
Mae war beim Essen schweigsam, wie immer. Vince neben ihr aß geräuschvoll. Ricky saß am anderen Ende des Tisches, weit von mir weg, blickte auf sein Essen, um mir nicht in die Augen schauen zu müssen. Mir war das nur recht. Niemand wollte über Rosie und David Brooks sprechen. Doch die leeren Hocker am Tisch waren nicht zu übersehen. Bobby sagte zu mir: »Und, wollt ihr heute Abend los?«
»Ja«, sagte ich. »Wann wird es dunkel?«
»Die Sonne müsste gegen halb acht untergehen«, sagte Bob-by. Er knipste einen Monitor an der Wand an. »Ich geb dir die genaue Uhrzeit.«
Ich sagte: »Drei Stunden später können wir dann aufbrechen. Irgendwann nach zehn.«
Bobby sagte: »Und du glaubst, ihr findet die Schwärme?«
»Bestimmt. Charley hat einen von ihnen ja ganz ordentlich eingesprüht.«
»Und deshalb leuchte ich jetzt im Dunkeln«, sagte Charley lachend. Er kam herein und setzte sich.
Alle begrüßten ihn überschwänglich. Es war auf jeden Fall besser, noch jemanden am Tisch zu haben. Ich fragte ihn, wie er sich fühle.
»Ganz gut. Ein bisschen schwach. Und ich hab höllische Kopfschmerzen.«
»Ich weiß. Ich auch.«
»Und ich auch«, sagte Mae.
»Schlimmer als die Kopfschmerzen, die ich Ricky verdanke«, sagte Charley und blickte auf den Tisch. »Und auch anhaltender.«
Ricky sagte nichts. Er aß einfach weiter.
»Glaubt ihr, diese Dinger dringen einem ins Hirn?«, sagte Charley. »Ich meine, es sind schließlich Nanopartikel. Man atmet sie ein, sie passieren die Blut-Hirn-Schranke . und schwups sind sie im Gehirn.«
Bobby schob Charley einen Teller Pasta hin. Er machte sofort ausgiebigen Gebrauch von der Pfeffermühle.
»Willst du nicht erst probieren?«
»Nichts gegen deine Kochkünste. Aber ich bin sicher, es fehlt Pfeffer.« Er fing an zu essen.
»Ich meine«, fuhr er fort, »das ist doch die große Sorge, dass die Nanotechnologie die Umwelt verschmutzt, oder nicht? Nanopartikel sind so klein, dass sie Stellen erreichen können, an die bisher keiner einen Gedanken verschwenden musste. Sie können in die Synapsen zwischen den Neuronen. Sie können ins Zytoplasma von Herzzellen. Sie können in Zellkerne. Sie sind so klein, dass sie jede Stelle im Körper erreichen. Vielleicht sind wir ja jetzt infiziert, Jack.«
»Allzu große Sorgen scheinst du dir deshalb ja nicht zu machen«, sagte Ricky.
»He, was kann ich denn jetzt noch daran ändern? Ich kann nur hoffen, dass ich dich anstecke. He, die Spagetti sind gar nicht schlecht.«
»Ravioli«, sagte Bobby.
»Egal. Müssen nur ein bisschen nachgewürzt werden.« Er griff wieder nach der Pfeffermühle.
»Sonnenuntergang ist um neunzehn Uhr siebenundzwanzig«, las Bobby vom Monitor ab. Er aß weiter. »Und sie müssen nicht nachgewürzt werden.«
»Aber ja doch.«
»Ich hab schon Pfeffer reingetan.«
»Zu wenig.«
Ich sagte: »Leute? Fehlt einer von uns?«
»Nein, wieso?«
Ich deutete auf den Monitor. »Wer steht dann da draußen in der Wüste?«
6. Tag, 19.12 Uhr
Ach, du Scheiße«, sagte Bobby. Er sprang vorn Tisch auf und lief aus der Küche. Alle folgten ihm. Ich auch.
Ricky sprach im Laufschritt in sein Funkgerät: »Vince, alles dicht machen. Vince?«
»Es ist alles dicht«, sagte Vince. »Druck bei fünf plus.«
»Wieso ist der Alarm nicht losgegangen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie ja schon gelernt, ihn auszutricksen.«
Ich folgte den anderen in den Technik-Raum, wo große Flüssigkristallbildschirme an den Wänden die Bilder der Außenkameras zeigten. Die Wüste aus allen Perspektiven.
Die Sonne war schon am Horizont verschwunden, aber der Himmel war noch leuchtend orange, wurde lila und dann dunkelblau. Vor diesem Himmel hob sich die Silhouette eines jungen Mannes mit kurzen Haaren ab. Er trug eine Jeans und ein weißes T-Shirt und sah aus wie ein Surfer. Ich konnte sein Gesicht in dem schwächer werdenden Licht nicht deutlich sehen, doch die Art, wie er sich bewegte, hatte für mich irgendwas Vertrautes.
»Haben wir draußen keine Scheinwerfer?«, fragte Charley. Er ging auf und ab, seinen Teller Pasta in der Hand, und aß noch immer.
»Licht geht an«, sagte Bobby, und gleich darauf stand der junge Mann in grellem Licht. Jetzt konnte ich ihn deutlich sehen .
Und dann fiel es mir ein. Er sah genauso aus wie der junge Mann, der gestern Abend nach dem Essen in Julias Wagen gesessen hatte, als sie wegfuhr, kurz vor ihrem Unfall. Derselbe blonde Surfertyp, der, jetzt da ich ihn wieder sah, Ähnlichkeit mit .
»Ach du Schande, Ricky«, sagte Bobby. »Der sieht aus wie du.«
»Du hast Recht«, sagte Mae. »Es ist Ricky. Sogar sein T-Shirt.«
Ricky zog sich gerade eine Limo am Automaten. Er drehte sich zum Monitor um. »Was redet ihr denn da?«
»Er sieht aus wie du«, sagte Mae. »Er hat sogar dein >Ich bin Root<-T-Shirt an.«
Ricky blickte auf sein T-Shirt, dann wieder auf den Bildschirm. Einen Moment lang sagte er kein Wort. »Das gibt's doch gar nicht.«
Ich sagte: »Du warst kein einziges Mal draußen, Ricky. Wieso bist du das da?«
»Keinen Schimmer«, sagte Ricky. Er zuckte lässig die Achseln. Zu lässig?