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Mae sagte: »Ich kann das Gesicht nicht richtig erkennen. Ich meine, die Gesichtszüge.«

Charley trat näher an den größten Monitor und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Die Gesichtszüge sind deshalb nicht zu sehen«, sagte er, »weil es keine gibt.«

»Ach, hör doch auf.«

»Charley, das ist ein Auflösungsfehler, mehr nicht.«

»Nein«, sagte Charley. »Da sind keine Gesichtszüge. Zoom es doch ran und guck selbst.«

Bobby zoomte. Das Bild des blonden Kopfes wurde größer. Die Gestalt bewegte sich hin und her, verschwand aus dem Bild und kam wieder herein, aber es war gleich klar, dass Charley Recht hatte. Es gab keine Gesichtszüge. Unter dem blonden Haaransatz war eine ovale Fläche blasse Haut; Nase und Augenbrauen waren angedeutet, und dort, wo die Lippen hingehörten, war eine Art Wölbung. Aber richtige Gesichtszüge waren das nicht.

Es sah aus wie das unvollendete Werk eines Bildhauers. Es war ein unvollendetes Gesicht.

Doch die Augenbrauen bewegten sich von Zeit zu Zeit. Eine Art Wackeln oder Flattern. Aber vielleicht war das ja ein Bildfehler.

»Euch ist doch wohl klar, was wir da sehen, nicht?«, sagte Charley. Er klang besorgt. »Schwenk nach unten. Wir wollen uns den Rest angucken.« Bobby schwenkte nach unten, und wir sahen weiße Sportschuhe, die sich über den Wüstensand bewegten. Bloß, die Schuhe schienen den Boden nicht zu berühren, sondern darüber hinwegzuschweben. Und sie waren irgendwie verschwommen. Man konnte die Schnürsenkel erahnen und auch einen Streifen, wo normalerweise das NikeLogo war. Aber es sah aus wie eine Skizze, nicht wie ein richtiger Sportschuh.

»Das ist seltsam«, sagte Mae.

»Überhaupt nicht seltsam«, sagte Charley. »Das ist eine berechnete Annäherung an Dichte. Der Schwarm hat nicht genug Agenten, um Schuhe mit hoher Auflösung darzustellen. Er nähert sich also nur an.«

»Oder aber«, sagte ich, »er versucht, aus den Materialien, die er hat, das Beste zu machen. Er muss all die Farben erzeugen, indem er seine fotovoltaische Oberfläche ganz leicht neigt, um das Licht aufzufangen. Wie bei diesen großen Kartons, die die Fans im Footballstadion hochhalten, um ein Bild darzustellen.«

»Was bedeuten würde«, sagte Charley, »dass sein Verhalten ziemlich hoch entwickelt ist.«

»Höher als alles, was wir vorher gesehen haben«, bestätigte ich.

»Ach, jetzt hört aber auf«, sagte Ricky gereizt. »Ihr tut ja so, als wäre der Schwarm da Einstein.«

»Ganz sicher nicht«, sagte Charley, »wenn er dich imitiert, kann er kein Einstein sein.«

»Halt die Luft an, Charley.«

»Würde ich ja, Ricky, aber du bist so ein großes Arschloch, dass es mich immer wieder juckt.«

Bobby sagte: »Jetzt haltet aber ihr beiden mal die Luft an.«

Mae sah mich an und sagte: »Warum macht der Schwarm das? Imitiert er die Beute?«

»Im Grunde, ja.«

»Schreckliche Vorstellung, dass wir Beute sein sollen«, sagte Ricky.

Mae fragte: »Du meinst, er ist so codiert, die Beute im wahrsten Sinne des Wortes körperlich zu imitieren?«

»Nein«, antwortete ich. »Die Programmbefehle sind allgemeiner gehalten. Sie geben den Agenten lediglich die Anweisung, das Ziel zu erreichen. Was wir da sehen, ist also eine mögliche emergente Lösung. Und sie ist fortgeschrittener als die frühere Version. Davor hatte der Schwarm Probleme, ein stabiles 2-D-Bild zu Stande zu bringen. Jetzt simuliert er dreidimensional.«

Ich blickte die Programmierer an. Sie wirkten schockiert. Sie wussten genau, was für einen gewaltigen Fortschritt sie da vor Augen hatten. Der Übergang zur dreidimensionalen Darstellung bedeutete, dass der Schwarm jetzt nicht nur unsere äußere Erscheinung imitierte, er imitierte auch unser Verhalten. Unsere Gehweise, unsere Gesten. Was ein weitaus komplizierteres Innenleben voraussetzte.

Mae sagte: »Und der Schwarm hat das ganz selbstständig entschieden?«

»Ja«, antwortete ich. »Wenngleich ich nicht weiß, ob das der richtige Ausdruck ist. Das emergente Verhalten ist die Summe der Verhaltensweisen der einzelnen Agenten. Es ist niemand da, der irgendwas >entscheidet<. Es gibt im Schwarm keinen Verstand, keine höhere Kontrollinstanz.«

»Gruppengeist?«, sagte Mae. »Schwarmgeist?«

»In gewisser Weise, ja«, erwiderte ich. »Entscheidend ist, es gibt keine zentrale Steuerung.«

»Aber er wirkt gesteuert«, sagte sie. »Er wirkt wie ein definierter, zielorientierter Organismus.«

»Na ja, das tun wir ja auch«, sagte Charley mit einem rauen Lachen. Niemand lachte mit.

Wenn man so will, ist der Mensch im Grunde ein riesiger Schwarm. Genauer gesagt, er ist ein Schwarm Schwärme, denn jedes Organ - Blut, Leber, Niere - ist ein einzelner Schwarm. Was wir »Körper« nennen, ist in Wirklichkeit die Kombination aller Organschwärme.

Wir halten unseren Körper für fest, aber nur, weil wir nicht sehen können, was auf der Zellebene vor sich geht. Wenn man den menschlichen Körper auf ein gewaltiges Format vergrößern könnte, dann wäre zu sehen, dass er praktisch nichts anderes ist als eine wirbelnde Masse von Zellen und Atomen, die zu kleineren Wirbeln von Zellen und Atomen gebündelt sind.

Na und? Nun, es ist erwiesen, dass auf der Ebene der Organe viele Prozesse ablaufen. Menschliches Verhalten wird an zahlreichen Stellen determiniert. Die Steuerung unseres Verhaltens findet nicht in unserem Gehirn statt, sondern überall in unserem Körper.

Man könnte also behaupten, dass auch Menschen von »Schwarmintelligenz« gelenkt werden. Das Gleichgewicht wird vom Kleinhirnschwarm gesteuert, was kaum ins Bewusstsein vordringt. Andere Abläufe vollziehen sich im Rückenmark, im Magen, in den Eingeweiden. Sehen findet in großem Maße in den Augäpfeln statt, lange bevor das Gehirn beteiligt wird.

Zudem laufen viele komplizierte Prozesse im Gehirn unbewusst ab. Das Umgehen von Hindernissen ist ein gutes Beispiel. Ein mobiler Roboter benötigt ungeheuer viel Verarbeitungszeit, bloß um irgendwelchen Hindernissen in der Umgebung auszuweichen. Bei Menschen ist es nicht anders, doch sie sind sich dessen nicht bewusst - bis das Licht ausgeht. Dann machen sie die schmerzliche Erfahrung, wie viel Informationsverarbeitung wirklich erforderlich ist.

Man könnte also argumentieren, dass die gesamte Bewusstseinsstruktur, die menschliche Selbstkontrolle und Zielorien-tiertheit eine Benutzerillusion sind. Wir haben gar keine bewusste Kontrolle über uns. Wir glauben das nur.

Nur weil Menschen sich selbst als ein »Ich« empfinden, muss das nicht den Tatsachen entsprechen. Und dieser verdammte Schwarm hatte - soweit wir das sagen konnten - so etwas wie ein rudimentäres Gefühl von sich als Einheit. Oder falls er es noch nicht hatte, dann könnte es schon sehr bald aufkommen.

Wir beobachteten den gesichtslosen Mann auf dem Monitor, und auf einmal sahen wir, dass das Bild instabil wurde. Der Schwarm hatte Mühe, die äußere Erscheinung aufrechtzuerhalten. Er veränderte sich jetzt: Mal schienen sich Gesicht und Schultern in Staub aufzulösen, dann traten sie wieder als feste Form in Erscheinung. Es war seltsam anzusehen.

»Schwächephase?«, fragte Bobby.

»Nein, ich glaube, er wird müde«, sagte Charley.

»Du meinst, er hat langsam keine Energie mehr.«

»Ja, wahrscheinlich. Alle Partikel genau im richtigen Winkel zu neigen kostet bestimmt jede Menge Saft.«

Und tatsächlich, der Schwarm nahm wieder seine Wolkenform an.

»Dann ist das da wohl der Energiesparmodus?«, sagte ich.

»Ja. Sie wurden sicherlich optimiert, damit sie mit ihrer Energie haushalten können.«

»Oder sie haben es gelernt.«

Es wurde jetzt rasch dunkel. Das Orange am Himmel war verschwunden. Das Bild auf dem Monitor wurde unscharf.

Der Schwarm drehte sich und wirbelte davon.

»Ich fass es nicht«, sagte Charley.

Ich sah, wie der Schwarm am Horizont verschwand. »Drei Stunden«, sagte ich, »und sie sind erledigt.«