6. Tag, 22.12 Uhr
Gleich nach dem Essen legte sich Charley wieder ins Bett. Er schlief noch, als Mae und ich uns zum Aufbruch fertig machten. Wir trugen Westen und Jacken, weil es kalt werden würde. Wir brauchten noch einen Begleiter. Ricky sagte, er wolle auf Julia warten, die jeden Moment eintreffen musste; mir war das nur recht, ich wollte ihn ohnehin nicht dabeihaben. Vince war verschwunden; er guckte irgendwo Fernsehen und trank Bier. Damit blieb nur noch Bobby.
Bobby wollte nicht mit, doch Mae setzte ihn moralisch so unter Druck, dass er sich schließlich doch bereiterklärte. Die Frage war, wie wir drei vorankommen würden, denn möglicherweise lag das Versteck des Schwarms ein gutes Stück entfernt, vielleicht sogar einige Meilen. Wir hatten zwar noch Davids Motorrad, aber darauf war nur Platz für zwei. Dann stellte sich heraus, dass Vince ein Geländefahrzeug im Depot hatte, ein ATV. Ich ging zu ihm in den Technikraum und bat ihn um den Schlüssel.
»Steckt«, sagte er. Er saß auf der Couch und schaute sich »Who Wants to Be A Millionaire?« an. Ich hörte den Quizmaster sagen: »Sie bleiben bei der Antwort?«
Ich sagte: »Was?«
»Der Schlüssel steckt«, antwortete Vince. »Steckt immer.« »Moment mal«, sagte ich. »Soll das heißen, im Depot war die ganze Zeit über ein Fahrzeug, in dem der Schlüssel steckte?«
»Klar.« Aus dem Fernseher hörte ich: »Für fünftausend Dollar wollen wir wissen, wie das kleinste Land in Europa heißt?«
»Wieso hat mir das keiner gesagt?«, fragte ich, mit aufsteigendem Zorn.
Vince zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mich hat keiner gefragt.«
Ich marschierte zurück zu den anderen. »Wo zum Teufel steckt Ricky?«
»Der telefoniert«, sagte Bobby. »Mit den Bossen im Valley.«
Mae sagte: »Beruhige dich.«
»Ich bin ganz ruhig«, antwortete ich. »Wo telefoniert er? Im Hauptmodul?«
»Jack.« Sie legte ihre Hände auf meine Schultern, hielt mich fest. »Es ist schon nach zehn. Vergiss das jetzt.«
»Vergessen? Durch seine Schuld wären wir fast draufgegan-gen.«
»Und jetzt haben wir was zu tun.«
Ich betrachtete ihr ruhiges Gesicht, sah ihren unerschütterlichen Blick. Ich dachte daran, wie zügig und geschickt sie das Kaninchen seziert hatte.
»Du hast Recht«, sagte ich.
»Schön«, sagte sie und wandte sich ab. »Also, wir brauchen jetzt nur noch ein paar Rucksäcke, und dann kann's losgehen.«
Es hatte schon seinen Grund, dachte ich, warum Mae niemals ein Streitgespräch verlor. Ich ging zum Geräteschrank und nahm drei Rucksäcke heraus. Einen warf ich Bobby zu.
»Abmarsch«, sagte ich.
Es war eine klare Nacht, voller Sterne. Wir gingen auf das Depot zu, eine dunkle Silhouette vor dem dunklen Himmel. Ich schob die Motocross-Maschine. Eine Weile sprach keiner von uns. Dann sagte Bobby: »Wir werden Taschenlampen brauchen.«
»Wir werden so einiges brauchen«, sagte Mae. »Ich hab eine Liste gemacht.«
Wir erreichten das Depot und stießen die Tür auf. Ich sah, dass Bobby draußen zurückblieb. Ich ging hinein und suchte nach dem Lichtschalter. Ich fand ihn, und es wurde hell.
Es sah alles genau so aus, wie wir es verlassen hatten. Mae öffnete ihren Rucksack und ging an der Reihe Regale entlang.
»Wir brauchen Handlampen ... Zünder ... Leuchtkugeln ... Sauerstoff ...«
Bobby sagte: »Sauerstoff? Im Ernst?«
»Wenn das Versteck unterirdisch ist, ja, möglich . Und wir brauchen Thermit.«
Ich sagte: »Rosie hatte es. Vielleicht hat sie es abgestellt, als sie ... Ich seh mal nach.« Ich ging nach nebenan. Die Kiste mit den Thermitkapseln lag umgekippt auf dem Boden, die Kapseln daneben. Rosie hatte sie fallen lassen, als sie losrannte. Ich fragte mich, ob sie auch welche in der Hand gehabt hatte. Ich schaute zu ihrem Leichnam an der Tür hinüber.
Rosies Leichnam war verschwunden.
»Mein Gott!«
Bobby kam hereingerannt. »Was ist? Was ist passiert?«
Ich deutete auf die Tür. »Rosie ist verschwunden.«
»Was soll das heißen, verschwunden?«
Ich blickte ihn an. »Verschwunden, Bobby. Der Leichnam lag da, und jetzt ist er weg.«
»Wie ist das möglich? Ein Tier?«
»Ich weiß nicht.« Ich ging an der Stelle in die Hocke, wo der Leichnam gelegen hatte. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, vor fünf oder sechs Stunden, war er mit einem milchigen Sekret bedeckt gewesen. Davon war noch einiges auf dem Boden. Es sah genauso aus wie dicke, getrocknete Milch. Dort, wo sich Rosies Kopf befunden hatte, war das Sekret glatt und unberührt. Aber näher zur Tür hin sah es aus wie zerkratzt. Es waren Streifen in der Schicht.
»Sieht aus, als wäre sie rausgeschleift worden«, sagte Bobby.
»Ja.«
Ich nahm das Sekret genauer in Augenschein, suchte nach Fußspuren. Ein Kojote allein hätte Rosie nicht wegschleifen können; dazu wäre ein ganzes Rudel vonnöten gewesen. So viele Tiere hätten mit Sicherheit Spuren hinterlassen. Ich sah keine.
Ich richtete mich auf und ging zur Tür. Bobby trat neben mich, und wir spähten hinaus in die Dunkelheit.
»Siehst du was?«, fragte er.
»Nein.«
Ich kehrte zu Mae zurück. Sie hatte alles gefunden. Sie hatte eine Rolle Magnesiumzündschnur. Sie hatte Leuchtkugeln. Sie hatte Halogentaschenlampen. Sie hatte Kopflampen mit breiten Gummibändern. Sie hatte kleine Ferngläser und Nachtsichtgeräte. Sie hatte ein Feldfunkgerät. Und sie hatte Sauerstoffflaschen und Vollsicht-Gasmasken. Mir war beklommen zu Mute, als ich sah, dass es die gleichen Plastikmasken waren, wie sie die Männer in dem SS VT-Van gestern Abend in Kalifornien aufgehabt hatten, nur dass sie nicht versilbert waren.
Und dann dachte ich, war das wirklich erst gestern Abend gewesen? Tatsächlich. Es waren kaum vierundzwanzig Stunden vergangen.
Es kam mir vor wie ein Monat.
Mae verteilte alles auf die drei Rucksäcke. Als ich ihr zusah, wurde mir bewusst, dass sie die Einzige von uns mit Felderfahrung war. Im Vergleich zu ihr waren wir alle Stubenhocker, Theoretiker. Erstaunt merkte ich, wie abhängig ich mich heute Abend von ihr fühlte.
Bobby wog den ersten Rucksack in der Hand und stöhnte. »Meinst du wirklich, wir brauchen das ganze Zeug, Mae?«
»Du musst es ja nicht zu Fuß schleppen; wir fahren. Und ja, ich gehe lieber auf Nummer sicher.«
»Ja, klar, verstehe, aber - ein Feldfunkgerät?«
»Man kann nie wissen.«
»Wen willst du anrufen?«
»Die Sache ist die, Bobby«, sagte sie, »wenn sich herausstellt, dass du irgendwas von dem Kram brauchst, dann brauchst du es wirklich.«
»Ja, aber ...«
Mae nahm den zweiten Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Sie wurde mühelos mit dem Gewicht fertig. Sie blickte Bobby an. »Was wolltest du sagen?«
»Ist schon gut.«
Ich nahm den dritten Rucksack. Er war gar nicht so schwer. Bobby jammerte nur, weil er Angst hatte. Die Sauerstoffflasche war zwar etwas größer und schwerer, als mir lieb war, und sie passte auch nur mit Mühe in den Rucksack, aber Mae bestand darauf, dass wir sie mitnahmen.
Bobby sagte nervös: »Sauerstoff? Was glaubt ihr denn, wie groß das Versteck ist?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Mae. »Aber die neuen Schwärme sind um einiges größer.«
Sie ging zum Waschbecken und nahm den Strahlungszähler. Aber als sie den Stecker aus der Wand zog, sah sie, dass der Akku leer war. Wir mussten einen neuen Akku auftreiben, das Gehäuse aufschrauben, den Akku austauschen. Ich fürchtete schon, dass der Ersatzakku auch leer war. Dann hätten wir die Aktion abbrechen müssen.
Mae sagte: »Wir sollten auch bei den Nachtsichtgeräten aufpassen. Ich weiß bei keinem der Geräte, wie voll die Akkus sind.«
Aber der Zähler tickte laut. Die Akkuanzeige leuchtete. »Voll aufgeladen«, sagte Mae. »Das reicht für vier Stunden.«