Auf dem Bett sagte Julia: »Ich bin bei dem Typen ziemlich ausgerastet. Es war zum Verrücktwerden. Der Countdown bis zum Beginn unserer Satellitenzeit lief, und die war fest gebucht. Daran war nichts mehr zu ändern. Wir mussten die Zeit einhalten, und der Typ da war eine hohle Nuss. Aber schließlich haben wir's hingekriegt. Spul vor.«
Der Bildschirm zeigte eine Tafel mit der Aufschrift:
Präsentation: Moderne Bildtechnologie im Bereich Medizin von Xymos Technologies
Mountain View, CA Weltweit führend in der molekularen Produktion
Dann tauchte Julia auf dem Bildschirm auf, sie stand vor der Trage und den medizinischen Apparaturen. Sie hatte sich die Haare gebürstet und die Bluse in den Rock gesteckt.
»Ich wünsche Ihnen allen einen Guten Tag«, sagte sie, in die Kamera lächelnd. »Ich bin Julia Forman von Xymos Technologies, und wir demonstrieren Ihnen jetzt ein von uns entwik-keltes revolutionäres Verfahren zur Bilddarstellung für medizinische Zwecke. Unsere Versuchsperson Peter Morris liegt hinter mir auf dem Tisch. In wenigen Augenblicken werden wir einen Blick in sein Herz und seine Blutgefäße werfen, und zwar mit einer Leichtigkeit und Präzision, wie sie bis dato undenkbar gewesen sind.«
Sie ging jetzt um den Tisch herum, sprach aber dabei weiter.
»Im Gegensatz zum Herzkatheter ist unser Verfahren hun-dertprozentig sicher. Und anders als beim Herzkatheter können wir uns alles im Körper anschauen, jede Art von Gefäß, wie groß oder klein auch immer. Wir werden in die Aorta dieses Mannes hier blicken, die größte Arterie seines Körpers. Aber wir werden auch in seine Lungenbläschen und in die winzigen Kapillargefäße seiner Fingerspitzen schauen. Das alles wird möglich, weil die Kamera, die wir in seine Gefäße einführen, kleiner ist als ein rotes Blutkörperchen. Sogar erheblich kleiner.
Die Mikrofabrikationstechnologie von Xymos kann diese Miniaturkameras nun herstellen, und das in großen Mengen -preiswert und schnell. Tausende von ihnen würden erst die Größe eines Punktes ergeben, den eine Bleistiftspitze erzeugt. Binnen einer Stunde können wir ein Kilo von diesen Kameras produzieren.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie alle skeptisch sind. Wir alle wissen, dass die Nanotechnologie Versprechungen gemacht hat, die sie nicht einlösen konnte. Wie Ihnen bekannt ist, bestand das Problem darin, dass die Wissenschaftler zwar Geräte in Molekulargröße entwerfen, sie aber nicht herstellen konnten. Xymos hat dieses Problem nun gelöst.«
Plötzlich wurde mir klar, was sie da eigentlich behauptete. »Was?«, sagte ich und setzte mich auf dem Bett auf. »Soll das ein Witz sein?« Wenn das stimmte, war das ein ungeheurer Entwicklungssprung, ein echter technologischer Durchbruch, und es bedeutete .
»Es stimmt«, sagte Julia ruhig. »Wir produzieren in Nevada.« Sie lächelte, genoss meine Verblüffung.
Auf dem Bildschirm sagte Julia gerade: »Ich habe eine von unseren Xymos-Kameras unter dem Elektronenmikroskop, hier«, sie deutete auf den Monitor, »damit Sie sie im Vergleich zu dem roten Blutkörperchen daneben sehen können.«
Das Bild wurde schwarzweiß. Ich sah, wie eine feine Sonde etwas, das aussah wie ein winziger Tintenfisch, auf einem Titanfeld in Position schob. Es war ein Klumpen, vorne abgerundet und hinten mit feinen Fädchen versehen. Er war rund zehnmal kleiner als das rote Blutkörperchen, das in dem Vakuum des Rasterelektronenmikroskops als ein schrumpeliges Oval zu erkennen war, wie eine graue Rosine.
»Unsere Kamera ist ein zweimilliardstel Millimeter lang. Wie Sie sehen, hat sie die Form eines Tintenfisches«, sagte Julia. »Die Bildaufnahme erfolgt in der Spitze. Mikroröhrchen im Schwanz sorgen für die Stabilisierung, wie der Schwanz eines Papierdrachens. Aber sie können auch aktiv ausschlagen und Fortbewegung ermöglichen. Jerry, können wir wohl die Kamera drehen, damit wir die Spitze sehen ... Okay, so ist gut. Danke. Jetzt sehen Sie vorn in der Mitte die Einbuchtung, nicht wahr? Das ist der Miniatur-Gallium-Arsenid-Photon-Detektor, der als Netzhaut fungiert, und der gestreifte Bereich drum herum - der wie ein Gürtelreifen aussieht - ist biolumineszie-rend und beleuchtet den vor ihm liegenden Bereich. In der Spitze selbst können Sie, wenn Sie ganz genau hinschauen, eine recht komplexe Serie von verdrehten Molekülen erkennen. Das ist unsere patentierte ATP-Kaskade. Denken Sie sie sich als ein primitives Gehirn, das das Verhalten der Kamera steuert - zwar sind die Verhaltensmöglichkeiten sehr begrenzt, für unsere Zwecke reichen sie aber aus.«
Ich hörte ein statisches Rauschen und ein Husten. Auf dem Bildschirm öffnete sich in der Ecke ein kleines Fenster, in dem jetzt Fritz Leidermeyer in Deutschland zu sehen war. Der Investor bewegte seine immense Leibesfülle. »Verzeihung, Miss Forman. Wo bitte ist das Objektiv?«
»Es gibt kein Objektiv.«
»Aber eine Kamera braucht doch ein Objektiv?«
»Dazu komme ich gleich«, sagte sie.
Mit Blick auf den Bildschirm sagte ich: »Es muss eine Camera obscura sein.«
»Richtig«, sagte sie nickend.
Die Camera obscura - Lateinisch für »dunkle Kammer« -war die erste bekannte Kamera überhaupt. Die Römer hatten festgestellt, dass ein kleines Loch in der Wand eines dunklen Raumes auf der gegenüberliegenden Wand ein auf dem Kopf stehendes, seitenverkehrtes Bild von der Außenwelt erzeugt. Der Grund dafür ist, dass Licht, das durch eine kleine Öffnung dringt, fokussiert wird, wie von einer Linse. Nach demselben Prinzip funktionieren die Lochkameras von Kindern. Seit den alten Römern wurden deshalb Apparate, die optische Abbildungen ermöglichten, »Kameras« genannt. Aber in diesem Fall
»Wie entsteht die Blendenöffnung?«, fragte ich. »Gibt es ein Nadelloch?«
»Ich dachte, das wüsstest du«, sagte sie. »Für den Teil bist du verantwortlich.«
»Ich?«
»Ja. Xymos hat die Lizenz erworben für einige agentenbasierte Algorithmen, die dein Team geschrieben hat.«
»Nein, das wusste ich nicht. Welche Algorithmen?«
»Zur Steuerung eines Partikelnetzes.«
»Eure Kameras sind vernetzt? Alle diese winzigen Kameras kommunizieren miteinander?«
»Ja«, erwiderte sie. »Sie sind ein Schwarm, im Grunde genommen.« Sie lächelte noch immer, belustigt über meine Reaktion.
»Ein Schwarm.« Ich überlegte, versuchte zu verstehen, was sie mir da sagte. Natürlich hatte mein Team eine Anzahl von Programmen geschrieben, um Agentenschwärme zu steuern. Vorbild dafür war das Verhalten von Bienen, was viele nützliche Eigenschaften aufweist. Weil Schwärme sich aus vielen Agenten zusammensetzten, konnte der Schwarm recht widerstandsfähig auf die Umwelt reagieren. Wenn Schwarmpro-gramme mit neuen und unerwarteten Bedingungen konfrontiert wurden, stürzten sie nicht ab; sie schwebten sozusagen einfach um die Hindernisse herum und machten weiter.
Doch unsere Programme arbeiteten so, dass sie im Computer virtuelle Agenten entwarfen. Julia hatte reale Agenten in der realen Welt geschaffen. Zunächst leuchtete mir nicht ein, wie unsere Entwicklung sich für Julias Zwecke umfunktionieren ließ.
»Wir verwenden sie für die Struktur«, sagte sie. »Das Programm sorgt für die Schwarmstruktur.«
Natürlich. Es lag auf der Hand, dass eine einzige Molekularkamera nicht ausreichen würde, um ein Bild aufzunehmen. Daher musste es ein Gemeinschaftswerk von Millionen von Kameras sein, die simultan arbeiteten. Außerdem mussten die Kameras räumlich in einer geordneten Struktur arrangiert sein, wahrscheinlich als Kugel. Und an diesem Punkt kamen unsere Programme ins Spiel. Aber das wiederum hieß, dass Xymos da gleichsam das Äquivalent eines ...
»Ihr baut ein Auge.«
»Könnte man so sagen. Ja.«
»Aber wo ist die Lichtquelle?«