Ich runzelte die Stirn. Wir hatten beide unsere Scheinwerfer die Böschung hinuntergerichtet. Wir beleuchteten einen recht großen Bereich. Ich sah keine Tiere.
»Da!«, sagte Mae.
»Ich sehe nichts.«
Sie streckte den Arm aus. »Es ist gerade hinter dem Wacholderbusch verschwunden. Siehst du den Busch, der aussieht wie eine Pyramide? Der mit den toten Ästen an einer Seite?«
»Ich sehe ihn«, sagte ich. »Aber ...« Ich sah noch immer kein Tier.
»Es bewegt sich von links nach rechts. Warte, gleich kommt es wieder zum Vorschein.«
Wir warteten, und dann sah ich zwei hellgrüne, funkelnde Punkte. Die sich dicht am Boden nach rechts bewegten. Ich sah etwas Blassweißes aufblitzen. Und ich wusste sofort, dass da etwas nicht stimmte.
Bobby ebenfalls. Er drehte seinen Lenker so, dass sein Scheinwerfer direkt die Stelle erhellte. Er nahm sein Fernglas.
»Das ist kein Tier ...«, sagte er.
Zwischen den niedrigen Büschen sahen wir noch mehr Weiß - wie weiße Haut. Aber wir sahen es immer nur aufblitzen. Und dann sah ich eine glatte, weiße Fläche, die, wie ich schok-kiert begriff, eine menschliche Hand war, die über den Boden schleifte. Eine Hand mit ausgestreckten Fingern. »Mein Gott«, sagte Bobby, das Fernglas an den Augen. »Was? Was ist das?«
»Da wird ein Körper entlanggezogen«, sagte er. Und dann fügte er mit einer merkwürdigen Stimme hinzu: »Es ist Rosie.«
6. Tag, 22.58 Uhr
Mae saß wieder hinter mir, als ich Gas gab und so lange am Rand der Uferböschung entlangfuhr, bis diese sich weniger schroff zum Flussbett hinneigte. Bobby blieb, wo er war, und behielt Rosies Leichnam im Auge. Wenig später hatte ich das Flussbett durchquert und steuerte jetzt zurück auf sein Licht auf der Anhöhe zu.
Mae sagte: »Nicht so schnell, Jack.«
Ich verlangsamte das Tempo, beugte mich über den Lenker, um den Boden vor mir besser sehen zu können. Plötzlich knatterte der Strahlungszähler wieder los.
»Hört sich gut an«, sagte ich.
Wir fuhren weiter. Jetzt waren wir direkt gegenüber von Bobby. Sein Scheinwerfer warf ein schwaches Licht auf den Boden um uns herum, fast wie Mondlicht. Ich winkte ihm zu, herunterzukommen. Er wendete sein Gefährt und fuhr in westliche Richtung los. Ohne das Licht seines Scheinwerfers war der Boden plötzlich dunkler, geheimnisvoller.
Und dann sahen wir Rosie.
Rosie Castro lag auf dem Rücken, den Kopf so geneigt, dass es aussah, als würde sie nach hinten schauen, mich direkt anschauen, die Augen aufgerissen, einen Arm mir entgegengestreckt, die blasse Hand geöffnet. Sie hatte einen flehenden -oder panischen - Ausdruck im Gesicht. Die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt, und ihr Körper ruckte steif, während er sich über niedrige Sträucher und Kakteen bewegte.
Sie wurde weggeschleift - aber es war kein Tier zu sehen, das sie zog.
»Mach besser das Licht aus«, sagte Mae.
»Aber ich seh nicht, was sie von der Stelle bewegt ... unter ihr ist so was wie ein Schatten ...«
»Das ist kein Schatten«, sagte Mae. »Das sind sie.«
»Sie schleifen sie weg?«
Sie nickte. »Mach das Licht aus.«
Ich schaltete den Scheinwerfer aus. Wir standen im Dunkeln. Ich sagte: »Ich dachte, die Schwärme hätten nicht länger als drei Stunden Energie.«
»Das hat Ricky gesagt.«
»Dann hat er wieder gelogen?«
»Oder sie haben diese Beschränkung inzwischen überwunden.«
Die Vorstellung war beunruhigend. Wenn die Schwärme mittlerweile die Nacht hindurch Energie halten konnten, dann waren sie vielleicht aktiv, wenn wir ihr Versteck aufspürten. Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie dann in sich zusammengefallen wären, die Partikel auf dem Boden verstreut. Ich hatte sozusagen vor, sie im Schlaf zu töten. Jetzt war damit zu rechnen, dass sie gar nicht schliefen.
Wir standen in der kühlen Nachtluft und dachten nach. Schließlich sagte Mae: »Sind diese Schwärme nicht nach dem Vorbild von Insektenverhalten programmiert worden?«
»Eigentlich nicht«, sagte ich. »Vorlage für die Programmierung war das Räuber-Beute-Muster. Aber weil der Schwarm eine Population von interagierenden Partikeln ist, wird er sich bis zu einem gewissen Grad wie jede Population interagieren-der Partikel verhalten, zum Beispiel wie Insekten. Warum?«
»Insekten können Pläne ausführen, die mehr Zeit in Anspruch nehmen, als überhaupt eine einzige Generation lebt. Zum Beispiel Nester bauen, für den Bau sind häufig viele Generationen erforderlich. Das ist doch so, oder?«
»Ich glaube schon .«
»Dann wäre doch denkbar, dass ein Schwarm den Leichnam eine Zeit lang trägt, und ein anderer macht dann weiter. Vielleicht waren bisher drei oder vier Schwärme beteiligt. Auf diese Weise muss keiner von ihnen nachts drei Stunden arbeiten.«
Diese Vorstellung gefiel mir nicht viel besser. »Das würde bedeuten, dass die Schwärme zusammenarbeiten«, sagte ich. »Es würde bedeuten, dass sie koordiniert sind.«
»Das sind sie doch inzwischen ganz offensichtlich.«
»Aber das ist nicht möglich«, antwortete ich ihr. »Sie verfügen nämlich nicht über die Fähigkeit, sich Signale zu geben.«
»Vor einigen Generationen war das noch nicht möglich«, sagte Mae. »Inzwischen schon. Denk an die V-Formation, als sie auf dich losgegangen sind. Sie waren koordiniert.«
Das stimmte. Ich hatte es in dem Augenblick bloß nicht begriffen. Und wie ich jetzt so in der nächtlichen Wüste stand, fragte ich mich, was ich vielleicht noch alles nicht begriffen hatte. Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit und versuchte, etwas zu erkennen.
»Wo bringen sie sie hin?«, sagte ich.
Mae öffnete den Reißverschluss meines Rucksacks und nahm eine Nachtsichtbrille heraus. »Versuch's damit.«
Ich wollte ihr umgekehrt helfen, doch sie hatte schon geschickt ihren Rucksack abgenommen, öffnete ihn und holte ihre eigene Nachtsichtbrille hervor. Ihre Handgriffe waren flink, sicher.
Ich setzte mir die Brille auf, stellte den Riemen ein und klappte die Gläser nach unten über die Augen. Es war das neue Gen-4-Modell, und es zeigte Bilder in gedämpften Farben. Fast sofort sah ich Rosie in der Wüste. Ihr Körper verschwand gerade hinter Gestrüpp, während sie sich immer weiter entfernte.
»Also, wo bringen sie sie hin?«, sagte ich wieder. Noch während ich sprach, schwenkte ich die Brille höher und sah sofort, wo sie sie hinbrachten.
Aus einiger Entfernung erweckte es den Anschein eines natür-lichen Gebildes - ein dunkler Erdhügel, knapp fünf Meter breit und etwa zwei Meter hoch. Die Erosion hatte tiefe, vertikale Spalten in den Hügel geschnitten, sodass er ein wenig an ein riesiges, hochkant stehendes Zahnrad erinnerte. Er wirkte so natürlich, dass er leicht zu übersehen war.
Aber er war nicht natürlich. Und sein gemeißeltes Äußeres war nicht auf Erosion zurückzuführen. Im Gegenteil, was ich da vor mir hatte, war ein künstliches Gebilde, ähnlich den Nestern, die von afrikanischen Termiten oder anderen Insekten gebaut werden.
Mae hatte das zweite Nachtsichtgerät auf und beobachtete eine Weile schweigend, dann sagte sie: »Willst du mir jetzt erzählen, das da ist das Ergebnis von selbst organisiertem Verhalten? Das Verhalten, dieses Ding da zu bauen, ist von ganz allein entstanden?«
»Ja«, sagte ich. »Genau das ist passiert.«
»Kaum zu glauben.«
»Ich weiß.«
Mae war eine gute Biologin, aber sie war Primatenforscherin. Sie befasste sich mit kleinen Populationen hochintelligenter Tiere, die Dominanzhierarchien und Gruppenführer hatten. Ihrem Verständnis nach war komplexes Verhalten das Ergebnis von komplexer Intelligenz. Und sie konnte sich nur schwer vorstellen, wozu selbst organisiertes Verhalten innerhalb einer sehr großen Population von dummen Tieren fähig war.
Das war übrigens ein tief sitzendes menschliches Vorurteiclass="underline" Menschen gingen davon aus, dass eine Gesellschaft eine zentrale Führung brauchte. Staaten hatten Regierungen. Unternehmen hatten ein Management. Schulen hatten Direktoren. Armeen hatten Generäle. Menschen glaubten gemeinhin, dass eine Gesellschaft ohne zentrale Führung im Chaos versinken würde und nichts Vernünftiges zu Stande brächte.