Julia drückte die Mithörtaste. Wir hörten den Wählton. Sie tippte eine Nummer ein. Aber der Anruf ging nicht durch. Die Leitung wurde einfach unterbrochen.
»Mhm«, sagte sie. »Ich versuch's noch mal ...«
Sie wählte ein zweites Mal. Wieder ging der Anruf nicht durch.
»Komisch. Ricky, ich krieg keine Verbindung nach draußen.«
»Versuch's noch mal«, sagte Ricky.
Ich trank von meinem Gingerale und beobachtete sie. Kein Zweifel, alles war nur Theater, das sie uns vorspielten. Julia wählte brav ein drittes Mal. Ich fragte mich, was für eine Nummer sie da anrief. Oder kannte sie die Nummer vom Pentagon auswendig?
»Mhm«, sagte sie. »Nichts.«
Ricky nahm das Telefon hoch, schaute sich die Unterseite an, stellte es wieder hin. »Müsste in Ordnung sein«, sagte er und tat verwundert.
»Ach, Herrgott«, sagte ich. »Lasst mich raten. Irgendwas ist passiert, und wir können nicht nach draußen telefonieren.«
»Nein, nein, es geht«, sagte Ricky.
»Ich habe vorhin noch telefoniert«, sagte Julia. »Kurz bevor ihr zurückgekommen seid.«
Ricky stieß sich vom Tisch ab. »Ich überprüf mal die Leitungen.«
»Ja genau, tu das«, sagte ich mit finsterem Blick.
Julia starrte mich an. »Jack«, sagte sie, »du machst mir Sorgen.«
»Ach nee.«
»Du bist wütend.«
»Ich werde verarscht.«
»Das wirst du nicht«, sagte sie und blickte mir in die Augen. »Ich schwöre.«
Mae stand vom Tisch auf und sagte, dass sie unter die Dusche wolle. Bobby ging in den Freizeitraum, um ein Videospiel zu spielen, wie immer, wenn er Entspannung brauchte. Wenig später hörte ich das Knattern eines Maschinengewehrfeuers und die Schreie der tödlich getroffenen bösen Buben. Julia und ich waren allein in der Küche.
Sie beugte sich über den Tisch zu mir. Sie sprach mit leiser, ernster Stimme. »Jack«, sagte sie, »ich glaube, ich schulde dir eine Erklärung.«
»Nein«, sagte ich. »Tust du nicht.«
»Ich meine, für mein Verhalten. Meine Entscheidungen in den vergangenen Tagen.«
»Ist nicht wichtig.«
»Aber mir ist es wichtig.«
»Vielleicht später, Julia.«
»Ich muss es dir jetzt sagen. Weißt du, es ist so, ich wollte unbedingt die Firma retten, Jack. Das ist alles. Die Kamera hat nicht funktioniert, und wir haben es nicht hingekriegt, wir haben unseren Vertrag verloren, und die Firma ging den Bach runter. Ich hab noch nie eine Firma verloren. Ich hab noch nie erlebt, dass eine Firma, für die ich arbeite, zusammenbricht, und Xymos sollte nicht die erste sein. Ich hing da mit drin, es stand was für mich auf dem Spiel, und ich hatte wohl auch meinen Stolz. Ich wollte sie retten. Ich weiß, es war nicht sehr klug von mir. Ich war verzweifelt. Es war allein meine Verantwortung. Alle wollten mich bremsen. Ich hab sie gedrängt, weiterzumachen. Es war . mein persönlicher Kampf.« Sie zuckte die Achseln. »Und es war alles für die Katz. Die Firma geht in wenigen Tagen endgültig baden. Ich hab sie verloren.« Sie beugte sich noch näher zu mir. »Aber ich will dich nicht auch noch verlieren. Ich will meine Familie nicht verlieren. Ich will uns nicht verlieren.«
Sie senkte die Stimme, streckte die Hand über den Tisch aus und legte sie auf meine. »Jack, ich hab einiges wieder gutzumachen, und das möchte ich auch. Ich möchte, dass es wieder läuft, auch mit uns.« Sie hielt inne. »Ich hoffe, du willst das auch.«
Ich sagte: »Ich weiß nicht genau, was ich will.«
»Du bist müde.«
»Ja. Aber ich bin mir nicht sicher, nicht mehr.«
»Du meinst, wegen uns?«
Ich sagte: »Dieses blöde Gespräch geht mir auf die Nerven.« Und das stimmte. Ausgerechnet jetzt musste sie damit anfangen, ich war fix und fertig, ich hatte gerade erst die Hölle durchgemacht und wäre fast ums Leben gekommen, was im Grunde auf ihr Konto ging. Und es nervte mich, dass sie nur so eine banale Entschuldigung zu bieten hatte wie »Es war nicht sehr klug von mir«, obwohl ihr Zutun weitaus schlimmer gewesen war.
»Ach, Jack, lass uns wieder so werden, wie wir waren«, sagte sie, und plötzlich beugte sie sich ganz über den Tisch und wollte mich auf den Mund küssen. Ich wich zurück, drehte den Kopf zur Seite. Sie blickte mich mit flehenden Augen an. »Jack, bitte.«
»Das ist jetzt weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, Julia«, sagte ich.
Pause. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich: »Die Kinder vermissen dich.«
»Das glaub ich gern. Ich vermisse sie auch.«
Sie brach in Tränen aus. »Und mich vermissen sie nicht ...«, schluchzte sie. »Ich bin ihnen doch schon völlig egal ... ihre Mutter ... « Wieder ergriff sie meine Hand. Ich ließ es zu. Ich versuchte, mir über meine Gefühle klar zu werden. Ich war einfach müde, und mir war sehr unwohl zu Mute. Ich wollte, dass sie mit dem Weinen aufhörte.
»Julia .«
Die interne Sprechanlage klickte. Ich hörte Rickys Stimme, verstärkt. »He, Leute? Wir haben ein Problem mit den Kommunikationsleitungen. Am besten, ihr kommt sofort her.«
Die Telekommunikationstechnik befand sich in einer großen Kammer, die von einer Ecke des Wartungsraumes abging. Gesichert war sie durch eine dicke Stahltür mit einem kleinen Hartglasfenster in der oberen Hälfte. Das Fenster gab den Blick frei auf sämtliche Kabel und Schalter für die Telekommunikation im gesamten Betrieb. Ich sah, dass dicke Kabelbündel herausgerissen waren. Und ich sah in einer Ecke zusammengesackt Charley Davenport. Er war offensichtlich tot. Sein Mund stand offen, die Augen starrten ins Leere. Seine Haut war lilagrau. Ein schwarzer, summender Schwarm wirbelte um seinen Kopf herum.
»Ich kann mir absolut nicht erklären, was passiert ist«, sagte Ricky. »Er schlief tief und fest, als ich nach ihm gesehen hab .«
»Wann war das?«, fragte ich.
»Etwa vor einer halben Stunde.«
»Und der Schwarm? Wie ist der da reingekommen?«
»Das kann ich mir absolut nicht erklären«, sagte Ricky. »Er muss ihn mitgebracht haben, von draußen.«
»Wie denn?«, sagte ich. »Er ist doch durch die Luftschleusen gegangen.«
»Ich weiß, aber .«
»Aber was, Ricky? Wie ist das möglich?«
»Vielleicht . ich weiß nicht, vielleicht hatte er ihn hinten im Hals oder so.«
»Im Hals?«, sagte ich. »Du meinst, die haben ihm einfach so zwischen den Mandeln gehangen? Die Biester töten, weißt du.«
»Ja, ich weiß. Klar weiß ich das.« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Ich starrte Ricky an, versuchte, aus seinem Verhalten schlau zu werden. Er hatte gerade festgestellt, dass ein tödlicher Nanoschwarm in sein Labor eingedrungen war, und das schien ihn keineswegs zu beunruhigen. Er nahm es ganz gelassen hin.
Mae kam in den Raum geeilt. Sie erfasste die Situation mit einem Blick. »Hat sich jemand das Überwachungsvideo angesehen?«
»Das geht nicht«, sagte Ricky. Er deutete auf die Kammer. »Alles lahm gelegt - da drin.«
»Dann wisst ihr also nicht, wie er da reingekommen ist?«
»Nein. Aber offenbar wollte er verhindern, dass wir nach draußen anrufen. Zumindest sieht es ganz danach aus ...«
Mae sagte: »Wieso sollte Charley da reingehen?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung.
Julia sagte: »Die Kammer ist luftdicht. Vielleicht wusste er, dass er befallen war, und wollte uns vor sich schützen. Ich meine, er hat die Tür von innen abgeschlossen.«
Ich sagte: »Ach ja? Woher weißt du das?«
Julia sagte: »Äh ... das hab ich angenommen ... äh ...« Sie spähte durch die Scheibe. »Und, äh, das Schloss spiegelt sich in dem Chromteil da . siehst du das da?«
Ich schaute gar nicht erst hin. Aber Mae tat es, und ich hörte sie sagen: »Oh ja, Julia, du hast Recht. Gut beobachtet. Wäre mir niemals aufgefallen.« Es klang völlig gekünstelt, aber Julia reagierte gar nicht.