Ich schlief unruhig, hatte einen schrecklichen Traum nach dem anderen. Ich träumte, dass ich in Monterey war und Julia erneut heiratete. Ich stand vor dem Pfarrer, als sie in ihrem Brautkleid neben mich trat, und als sie den Schleier lüftete, war ich schockiert, wie schön und jung und schlank sie war. Sie lächelte mich an, und ich lächelte zurück, versuchte, mein Unbehagen zu verbergen. Denn jetzt sah ich, dass sie mehr als nur schlank war, dass ihr Gesicht dünn, fast ausgemergelt war. Einem Totenschädel ähnlich.
Dann wandte ich mich dem Geistlichen vor uns zu, aber auf einmal war er Mae, und sie schüttete farbige Flüssigkeiten von einem Reagenzröhrchen ins andere. Als ich Julia wieder ansah, war sie außer sich vor Wut und sagte, sie habe die Frau noch nie leiden können. Irgendwie war es mein Fehler. Ich war schuld.
Ich wachte kurz auf, verschwitzt. Das Kopfkissen war nass. Ich drehte es um und schlief wieder ein. Ich sah mich selbst schlafend im Bett liegen, und als ich aufblickte, bemerkte ich, dass die Tür zu meinem Zimmer offen stand. Licht drang aus dem Flur herein. Ein Schatten fiel über mein Bett. Ricky trat ein und blickte auf mich hinunter. Sein Gesicht war dunkel im Gegenlicht, ich konnte seinen Ausdruck nicht erkennen, aber er sagte: »Ich habe dich immer geliebt, Jack.« Er beugte sich hinab, um mir etwas ins Ohr zu flüstern, und als sein Kopf näher kam, merkte ich, dass er mich stattdessen küssen wollte. Auf den Mund, leidenschaftlich. Er hatte ihn geöffnet. Seine Zunge leckte seine Lippen. Ich war völlig durcheinander, ich wusste nicht, was ich machen sollte, doch in diesem Augenblick kam Julia herein und fragte: »Was ist hier los?«, und Ricky wich hastig zurück und machte irgendeine ausweichende Bemerkung. Julia war sehr zornig und sagte: »Nicht jetzt, du Idiot«, woraufhin Ricky erneut etwas Ausweichendes erwiderte. Und dann sagte Julia: »Das ist völlig unnötig, das erledigt sich von ganz allein.« Und Ricky sagte: »Bei intervallgesteuerter globaler Optimierung gibt es Konstriktionskoeffizienten für deterministische Algorithmen.« Und sie sagte: »Er wird dir nicht wehtun, wenn du dich nicht wehrst.« Sie schaltete das Licht im Zimmer an und ging hinaus.
Dann war ich plötzlich wieder auf meiner Monterey-Hochzeit; Julia stand in Weiß neben mir, und ich drehte mich zum Publikum um, und ich erblickte meine drei Kinder in der ersten Reihe, lächelnd und glücklich. Und während ich sie ansah, bildeten sich um ihre Münder schwarze Linien und breiteten sich nach unten über ihre Körper aus, bis sie ganz in Schwarz gehüllt waren. Sie lächelten weiter, aber ich war entsetzt. Ich lief zu ihnen, doch ich konnte den schwarzen Umhang nicht abreiben. Und Nicole sagte seelenruhig: »Vergiss die Rasensprenger nicht, Dad.«
Ich wachte auf. Ich hatte die Laken zerwühlt und war in Schweiß gebadet. Die Tür meines Zimmers stand offen. Ein Lichtrechteck fiel vom Flur auf mein Bett. Ich schaute zum PC-Monitor. Er zeigte »4.55«. Ich schloss die Augen und blieb einen Moment liegen, aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich war schweißnass und fühlte mich unwohl. Ich beschloss, unter die Dusche zu gehen.
Kurz vor fünf Uhr morgens stand ich auf.
Im Flur war alles still. Ich ging Richtung Waschräume. Die Türen zu allen Schlafzimmern waren offen, was ich seltsam fand. Im Vorbeigehen konnte ich sie alle schlafen sehen. Außerdem brannte in jedem Zimmer Licht. Ich sah Ricky schlafen, und ich sah Bobby und Julia und Vince. Maes Bett war leer. Und natürlich war Charleys Bett leer.
Ich ging kurz in die Küche, um mir ein Gingerale aus dem Kühlschrank zu nehmen. Ich war unglaublich durstig, die Kehle tat mir weh, so ausgetrocknet war sie. Und im Magen hatte ich ein flaues Gefühl. Ich blickte auf die Champagnerflasche. Plötzlich hatte ich das komische Gefühl, dass sich vielleicht jemand an der Flasche zu schaffen gemacht hatte. Ich nahm sie heraus und sah mir den Verschluss genau an, die Metallfolie, die den Korken verdeckte. Sie kam mir ganz normal vor. Keine Auffälligkeit, keine Nadelstiche, rein gar nichts.
Bloß eine Flasche Champagner.
Ich stellte sie zurück und schloss den Kühlschrank.
Ich fragte mich, ob ich Julia unrecht getan hatte. Vielleicht glaubte sie ja wirklich, dass sie einen Fehler gemacht hatte, und wollte manches wieder gutmachen. Vielleicht wollte sie auch bloß ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Vielleicht war ich zu hart zu ihr. Zu nachtragend.
Denn was hatte sie schon Verdächtiges oder Falsches getan, wenn man mal richtig drüber nachdachte? Sie hatte sich gefreut, mich zu sehen, wenn auch etwas übertrieben. Sie hatte die Verantwortung für das Experiment übernommen, und sie hatte sich dafür entschuldigt. Sie hatte sich unverzüglich bereit erklärt, das Pentagon anzurufen. Sie hatte meinem Plan zugestimmt, den Schwarm im Technikraum zu vernichten. Sie hatte mir so gut sie konnte gezeigt, dass sie mich unterstützte und auf meiner Seite stand.
Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl.
Und natürlich war da noch die Sache mit Charley und dem Schwarm. Rickys Erklärung, dass Charley den Schwarm irgendwo im oder am Körper gehabt hatte, im Mund oder in den Achselhöhlen oder sonst wo, fand ich nicht gerade einleuchtend. Diese Schwärme töteten in Sekundenschnelle. Also blieb die Frage offen: Wie war der Schwarm denn nun in den Technikraum zu Charley gelangt? War er von draußen reingekommen? Wieso hatte er nicht Julia und Ricky und Vince angegriffen?
Ich vergaß, dass ich duschen wollte.
Ich beschloss, zum Wartungsbereich zu gehen und mir die Tür des Technikraumes noch einmal genauer anzusehen. Vielleicht hatte ich irgendetwas übersehen. Julia hatte viel geredet, meine Konzentration gestört. Fast so, als hätte sie verhindern wollen, dass ich einen klaren Gedanken fasste ...
Da, schon wieder unterstellte ich Julia Böses.
Ich ging durch die Luftschleuse, den Korridor hinunter, wieder durch eine Luftschleuse. In müdem Zustand war es ausgesprochen unangenehm, von diesem Wind angeblasen zu werden. Ich gelangte in den Wartungsbereich und ging zur Tür des Technikraumes. Mir fiel nichts Ungewöhnliches auf.
Ich hörte das Klicken einer Tastatur und schaute ins Biologielabor. Mae saß an ihrem Computer.
Ich sagte: »Was machst du?«
»Ich seh mir das Videoband von den Überwachungskameras an.«
»Ich dachte, das geht nicht, weil Charley die Drähte rausgerissen hat.«
»Das hat Ricky gesagt. Aber es stimmt nicht.«
Ich wollte um den großen Arbeitstisch herum zu ihr gehen und ihr über die Schulter blicken. Sie hielt eine Hand hoch.
»Jack«, sagte sie. »Vielleicht ist es besser, du schaust dir das nicht an.«
»Was? Wieso nicht?«
»Tja, ähm ... Vielleicht solltest du dir das jetzt nicht zumuten. Jedenfalls im Moment noch nicht. Vielleicht morgen.«
Aber natürlich kam ich nach dieser Äußerung praktisch um den Tisch herumgelaufen, ich wollte doch wissen, was es auf dem Monitor zu sehen gab. Und ich blieb abrupt stehen. Der Bildschirm zeigte einen leeren Korridor. Mit der Zeitangabe am unteren Bildrand. »Das ist alles?«, sagte ich. »Und das sollte ich mir nicht zumuten?« »Nein.« Sie drehte sich auf dem Stuhl um. »Es ist so, Jack, man muss alle Überwachungskameras der Reihe nach durchgehen, und jede nimmt immer nur zehn Bilder pro Minute auf, daher kann man nie so genau sagen, was .«
»Zeig's mir einfach, Mae.«
»Ich muss ein Stück zurückgehen ...« Sie drückte mehrmals die Zurück-Taste. Wie viele moderne Überwachungsanlagen arbeitete die Xymos-Anlage nach dem Prinzip der InternetBrowser-Technologie. Man konnte die eigene Arbeit somit Schritt für Schritt verfolgen.
Die Bilder sprangen zurück, bis Mae die gesuchte Stelle fand. Dann ließ sie die Aufnahme laufen, und die Bilder der einzelnen Kameras kamen in rascher Folge. Ein Korridor. Die Fertigungshalle. Ein anderer Blick in die Fertigungshalle. Eine Luftschleuse. Wieder ein Korridor. Der Wartungsbereich. Ein Korridor. Die Küche. Der Freizeitraum. Der Flur des Wohntrakts. Eine Außenaufnahme vom Dach, mit Blick auf die in Flutlicht getauchte Wüste. Korridor. Energieraum. Außenaufnahme, ebenerdig. Wieder ein Korridor.