Ricky schüttelte den Kopf und legte Charley eine Hand auf die Schulter.
Charley fegte sie runter.
Die beiden Männer begannen zu streiten. Julia stellte derweil seelenruhig die restlichen Gläser in den Kühlschrank. Sie machte den Eindruck, als würde sie der Streit direkt neben ihr gleichgültig lassen, fast so, als würde sie ihn gar nicht mitkriegen. Charley versuchte, an Ricky vorbei zum Kühlschrank zu gelangen, aber Ricky stellte sich ihm immer wieder in den Weg und hob jedes Mal die Hände.
Rickys ganzes Verhalten suggerierte, dass er Charley für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Er behandelte Charley behutsam, wie man mit jemandem umgeht, der völlig die Beherrschung verloren hat.
Mae sagte: »Ist Charley schon vom Schwarm befallen? Führt er sich deshalb so auf?«
»Kann ich nicht sagen.« Ich sah genauer hin. »Ich sehe keinen Schwarm.«
»Nein«, sagte sie. »Aber er ist ganz schön wütend.«
»Was will er wohl von ihnen?«, sagte ich.
Mae schüttelte den Kopf. »Dass sie die Gläser zurückstellen? Sie spülen? Andere Gläser nehmen? Ich weiß nicht.«
Ich sagte: »So was ist Charley doch total egal. Der isst doch von einem schmutzigen Teller, den schon jemand anders benutzt hat.« Ich lächelte. »Hab ich selbst gesehen.«
Plötzlich trat Charley einige Schritte zurück. Einen Augenblick lang war er völlig regungslos, als hätte er etwas entdeckt, das ihm die Sprache verschlug. Ricky redete auf ihn ein. Charley fing an, auf die beiden zu zeigen und sie anzuschreien. Ricky wollte auf ihn zugehen.
Charley wich noch weiter zurück, und dann drehte er sich zum Telefon um, das an der Wand befestigt war. Er hob den Hörer ab. Ricky trat vor, sehr schnell, sein Körper war ganz verschwommen, und knallte den Hörer wieder auf. Er stieß Charley zurück, und zwar heftig. Ricky war verblüffend stark. Charley war ein stämmiger Kerl, aber er fiel hin und rutschte ein Stück über den Boden. Er stand wieder auf, schrie noch etwas, drehte sich dann um und lief aus dem Raum.
Julia und Ricky wechselten einen Blick. Julia sagte etwas zu ihm.
Sofort rannte Ricky hinter Charley her.
Julia rannte hinter Ricky her.
»Wo sind sie hin?«, sagte ich.
Mae ließ den Bildlaufregler los, auf dem Bildschirm erschien »Zeitaktualisierung«, und dann sahen wir erneut Bilder von allen Kameras, der Reihe nach. Wir sahen Charley einen Korridor hinunterlaufen, und wir sahen Ricky, der ihn verfolgte. Wir warteten ungeduldig auf die nächste Runde. Aber dort war niemand zu sehen.
Eine weitere Runde. Dann sahen wir Charley im Wartungsraum, wo er am Telefon eine Nummer wählte. Er warf einen Blick über die Schulter. Ricky kam herein, und Charley legte auf. Sie stritten sich, umkreisten einander.
Charley nahm eine Schaufel und schlug damit nach Ricky. Das erste Mal konnte Ricky ausweichen. Dann erwischte es ihn an der Schulter, und er fiel zu Boden. Charley hob die Schaufel hoch über den Kopf und ließ sie herabsausen, er wollte Rickys Kopf treffen. Der Schlag war brutal und in eindeutig mörderischer Absicht. Ricky konnte sich gerade noch nach hinten werfen, da krachte die Schaufel auch schon auf den Beton.
»Mein Gott ...«, sagte Mae.
Ricky kam wieder auf die Beine, als Charley sich nach Julia umdrehte, die in den Raum trat. Julia streckte eine Hand aus, flehte Charley an (die Schaufel wegzulegen?), Charley blickte von Ricky zu Julia. Und dann kam auch noch Vince herein. Jetzt, da alle im Raum waren, verlor Charley anscheinend die Kampfeslust. Die anderen umzingelten ihn, kamen näher.
Plötzlich hastete Charley zum Technikraum, lief hinein und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Ricky hatte ihn blitzschnell eingeholt, schob einen Fuß in den Spalt, und Charley konnte sie nicht schließen. Charleys Gesicht hinter der Scheibe sah wütend aus. Vince trat neben Ricky. Da beide nun an der Tür standen, konnte ich nicht sehen, was passierte. Julia schien Anweisungen zu geben. Ich meinte zu erkennen, dass sie eine Hand durch den Türspalt steckte, aber sicher war ich mir nicht.
Jedenfalls öffnete sich die Tür, und Vince und Ricky betraten den Raum. Was als Nächstes geschah, lief so schnell ab, dass es auf dem Video verschwamm, aber anscheinend kämpften die drei Männer; Ricky gelang es, hinter Charley zu kommen und ihn in einen Klammergriff zu nehmen, Vince drehte Charley den Arm auf den Rücken, und schließlich hatten die beiden Charley überwältigt. Er kämpfte nicht mehr. Die Bilder wurden wieder klarer.
»Was passiert denn da?«, sagte Mae. »Davon haben sie uns kein Wort erzählt.«
Ricky und Vince hielten Charley von hinten fest. Charley keuchte, seine Brust hob und senkte sich, aber er wehrte sich nicht mehr. Julia kam in den Raum. Sie blickte Charley an und unterhielt sich kurz mit ihm.
Und dann trat Julia dicht an Charley heran und küsste ihn voll und lange auf den Mund.
Charley sträubte sich, wollte sich losreißen. Vince packte mit der Faust in Charleys Haare und versuchte, seinen Kopf ruhig zu halten. Julia küsste ihn weiter. Dann trat sie zurück, und ich sah einen schwarzen Fluss zwischen ihrem Mund und dem von Charley. Nur ganz kurz, dann war er wieder verblasst.
»Oh mein Gott«, sagte Mae.
Julia wischte sich über die Lippen und lächelte.
Charley sackte zusammen, fiel zu Boden. Er wirkte benommen. Eine schwarze Wolke kam aus seinem Mund und schwirrte um seinen Kopf herum. Vince tätschelte ihm den Kopf und verließ den Raum.
Ricky ging zu den Schalttafeln - und zerrte ganze Leitungsstränge heraus. Er riss die Schalttafeln buchstäblich in Stücke. Dann drehte er sich wieder zu Charley um, sagte etwas und ging aus dem Technikraum.
Sofort sprang Charley auf, schloss die Tür und verriegelte sie. Aber Ricky und Julia lachten bloß, als wäre Charleys Anstrengung völlig sinnlos. Charley sank erneut zu Boden, und von da an war er nicht mehr zu sehen.
Ricky legte einen Arm um Julias Schultern, und gemeinsam gingen sie aus dem Raum.
»Na, ihr zwei seid ja richtige Frühaufsteher!«
Ich drehte mich um.
Julia stand in der Tür.
7. Tag, 5.12 Uhr
Sie kam lächelnd näher. »Weißt du, Jack«, sagte sie, »wenn ich nicht völliges Vertrauen zu dir hätte, würde ich denken, ihr beide führt irgendwas im Schilde.«
»Ach ja?«, sagte ich. Ich trat ein Stück von Mae weg, die rasch tippte. Mir war äußerst mulmig zu Mute. »Wie kommst du denn darauf?«
»Na ja, ihr hattet verschwörerisch die Köpfe zusammengesteckt«, sagte sie, während sie auf uns zukam. »Richtig gebannt habt ihr auf den Bildschirm gestarrt. Was habt ihr euch denn da angeguckt?«
»Ach nichts, was Technisches.«
»Darf ich mal sehen? Ich interessiere mich ja auch für die technischen Details. Hat Ricky dir nicht erzählt, dass ich mich neuerdings auch für die technische Seite interessiere? Im Ernst. Diese ganze Technologie hier fasziniert mich. Es ist eine neue Welt, oder nicht? Das einundzwanzigste Jahrhundert ist da. Bleib ruhig sitzen, Mae. Ich guck dir über die Schulter.«
Inzwischen stand sie hinter Mae und schaute auf den Bildschirm. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Bild, das Bakterienkulturen auf einem roten Nährboden zeigte. Weiße Kreise innerhalb von roten Kreisen. »Was ist das?«
Mae sagte: »Bakterienkolonien. Unser Coli-Material ist zum Teil kontaminiert. Ich musste einen Tank aus der Produktion nehmen. Wir suchen noch nach der Ursache.«
»Wahrscheinlich Phagen, meinst du nicht?«, sagte Julia. »Ein Virus - das ist doch meistens das Problem bei Bakterienstämmen?« Sie seufzte. »Die molekulare Herstellung ist so anfällig. Es geht so leicht was schief, und so häufig. Man muss höllisch aufpassen.« Sie warf mir einen Blick zu, dann Mae. »Aber das da habt ihr euch doch bestimmt nicht die ganze Zeit angeguckt
.«
»Doch«, sagte ich.