»Überflüssig?«, sagte ich voller Empörung. »Das waren meine Freunde. Und es waren deine Freunde, Ricky. Und deine, Bobby. Und ich möchte kein Wort mehr von dieser beschissenen Feierei hören!« Ich drehte mich um und stürmte aus der Küche. Als ich ging, kam Vince herein.
»Immer mit der Ruhe, Kumpel«, sagte Vince. »Sonst kriegen Sie noch 'nen Schlaganfall.«
»Leck mich doch«, sagte ich.
Vince hob die Augenbrauen. Ich fegte an ihm vorbei.
»Du machst hier keinem was vor, Jack!«, rief Julia mir nach. »Ich Weiß, worum es dir wirklich geht!« Mir drehte sich der Magen um. Aber ich ging weiter. »Ich hab dich durchschaut, Jack. Ich weiß, dass du zu ihr gehst.« »Und ob!«, sagte ich.
Dachte Julia das wirklich? Ich kaufte ihr das nicht ab. Sie wollte mich bloß täuschen, mich in Sicherheit wiegen, bis . was? Was hatten sie vor?
Sie waren zu viert. Und wir nur zu zweit - das heißt, wenn sie Mae nicht auch schon hatten.
Mae war nicht im Biologielabor. Ich schaute mich um und sah, dass eine Seitentür angelehnt war. Sie führte nach unten in den unterirdischen Bereich, wo die Fermentierkessel standen. Aus der Nähe waren sie viel größer, als ich gedacht hatte, riesige Stahlkugeln von fast zwei Metern Durchmesser. Drum herum ein Gewirr von Rohren und Ventilen und Temperaturreglern. Es war warm hier und sehr laut.
Mae stand an der dritten Einheit, machte sich auf einem Klemmbrett Notizen und schloss ein Ventil. Vor ihren Füßen stand ein Gestell mit Reagenzröhrchen. Ich stieg nach unten und stellte mich neben sie. Sie sah mich an, warf dann einen Blick zur Decke, wo eine Überwachungskamera montiert war. Sie ging auf die andere Seite des Tanks, und ich folgte ihr. Hier konnte uns die Kamera nicht erfassen.
Sie sagte: »Alle haben bei eingeschaltetem Licht geschlafen.«
Ich nickte. Ich wusste jetzt, was das bedeutete.
»Sie sind alle befallen«, sagte sie.
»Ja.«
»Und es bringt sie nicht um.«
»Nein«, stimmte ich ihr zu, »aber ich verstehe nicht, war-um.«
»Der Schwarm muss sich entwickelt haben«, sagte sie, »er toleriert sie jetzt.«
»So schnell?«
»Evolution kann schnell gehen«, bemerkte sie. »Du kennst die Ewald-Studien.«
Allerdings. Paul Ewald hatte über die Cholera geforscht. Er fand heraus, dass das Cholera-Bakterium sich rasch veränderte, um eine Epidemie in Gang zu halten. Dort, wo schlechte sanitäre Bedingungen herrschten, wo es vielleicht im Dorf nur einen Graben gab, war die Cholera extrem virulent. Sie streckte ihr Opfer nieder und tötete es rasch durch massiven Durchfall, der Millionen von Cholera-Bakterien enthielt, die in den Wassergraben gelangten und andere Dorfbewohner ansteckten. Auf diese Weise verbreitete sich die Cholera, und die Epidemie dauerte lange an.
Doch bei guten hygienischen Bedingungen konnte sich der aktive Stamm nicht vermehren. Das Opfer starb zwar rasch, aber sein Durchfall gelangte nicht ins Trinkwasser. Andere wurden nicht infiziert, und die Epidemie klang ab. Unter solchen Bedingungen brachte die Epidemie eine mildere Form hervor, bei der das Opfer den Erreger in sich trug, aber noch herumlaufen konnte, sodass die Bakterien sich über Hautkontakt, schmutzige Bettwäsche und so weiter verbreiteten.
Mae hielt es für möglich, dass das Gleiche mit den Schwärmen passiert war. Sie hatten sich zu einer milderen Form entwickelt, die von einer Person zur nächsten übertragen werden konnte.
»Das ist unheimlich«, sagte ich.
Sie nickte. »Aber was können wir machen?«
Und dann begann sie lautlos zu weinen, Tränen liefen ihr über die Wangen. Mae war immer so stark. Es entmutigte mich, sie jetzt so aufgelöst zu sehen. Sie schüttelte den Kopf. »Jack, wir sind machtlos. Sie sind zu viert. Sie sind stärker als wir. Sie werden uns umbringen, so wie sie Charley umgebracht haben.«
Sie drückte ihren Kopf an meine Schulter. Ich legte den Arm um sie. Aber ich konnte sie nicht trösten. Ich wusste, dass sie Recht hatte.
Es gab keinen Ausweg.
Winston Churchill sagte einmal sinngemäß, beschossen zu werden steigere die Konzentrationsfähigkeit ins Unermessliche. Mein Verstand arbeitete jetzt sehr schnell. Ich dachte, dass ich einen Fehler begangen hatte und dass ich ihn beheben musste. Obgleich es ein typisch menschlicher Fehler war.
Zwar ist der Begriff Evolution heutzutage groß in Mode -Evolutionsbiologie, Evolutionsmedizin, Evolutionsökologie, Evolutionspsychologie, Evolutionsökonomie, Evolutionsrechner -, doch überraschend wenige Leute denken in evolutionären Kategorien. Das ist sozusagen ein blinder Fleck auf der menschlichen Netzhaut. Wir sehen die Welt um uns herum als Schnappschuss, wo sie doch eigentlich ein Film ist und sich ständig verändert. Natürlich wissen wir, dass sie nicht gleich bleibt, aber wir tun so, als wäre das nicht der Fall. Wir leugnen die Realität der Veränderung. Daher sind wir stets verwundert, wenn sich etwas wandelt. Eltern sind überrascht, wenn ihre Kinder groß werden. Sie behandeln sie jedoch weiterhin, als wären sie jünger - ganz entgegen der Wirklichkeit.
Und mich hatte die Veränderung in der Evolution der Schwärme überrascht. Es gab keinen Grund, warum die Schwärme sich nicht gleichzeitig in zwei Richtungen entwik-keln sollten. Oder auch in drei oder vier oder zehn verschiedene Richtungen. Das hätte ich voraussehen müssen. Ich hätte es erwarten, damit rechnen müssen. Denn dann wäre ich besser auf die jetzige Situation vorbereitet gewesen.
Doch stattdessen hatte ich die Schwärme als ein einziges Problem behandelt - ein Problem da draußen, in der Wüste -, und ich hatte andere Möglichkeiten außer Acht gelassen.
Das nennt man Verleugnung der Realität, Jack.
Allmählich fragte ich mich, was ich noch alles verleugnete. Was hatte ich noch alles nicht wahrgenommen? Wo lag mein Fehler? Was hatte ich als Erstes übersehen? Wahrscheinlich die Tatsache, dass mein erster Kontakt mit einem Schwarm eine allergische Reaktion ausgelöst hatte - eine Reaktion, die mich fast umgebracht hätte. Mae hatte von einer Coliform-Reaktion gesprochen. Verursacht durch ein Toxin von den Bakterien im Schwarm. Das Toxin war offenbar das Resultat einer evolutionären Veränderung in den E. coli, aus denen der Schwarm bestand. Tja, genau genommen war allein schon das Vorhandensein von Phagen im Tank eine evolutionäre Veränderung, eine viröse Reaktion auf die Bakterien, die .
»Mae«, sagte ich. »Moment mal.«
»Was?«
Ich sagte: »Vielleicht gibt es ja doch eine Möglichkeit, sie aufzuhalten.«
Sie war skeptisch, das las ich in ihrem Gesicht. Doch sie wischte sich über die Augen und hörte zu.
Ich sagte: »Der Schwarm besteht aus Partikeln und Bakterien, richtig?«
»Ja .«
»Die Bakterien liefern die Rohzutaten für die Partikel, damit sie sich vermehren können. Ja? Okay. Also, wenn die Bakterien sterben, stirbt der Schwarm dann auch?«
»Wahrscheinlich.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Denkst du an ein Antibiotikum? Willst du allen ein Antibiotikum geben? Um eine E. coli-Infektion zu stoppen, brauchst du einen Haufen Antibiotika, sie müssten mehrere Tage Tabletten einnehmen, und ich weiß nicht .«
»Nein. Ich denke nicht an Antibiotika.« Ich klopfte auf den Tank vor mir. »Ich denke da dran.«
»Phagen?«
»Wieso nicht?«
»Ich weiß nicht, ob das funktioniert«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Könnte klappen. Bloß ... wie willst du die Phagen in sie reinkriegen? Sie werden sie bestimmt nicht einfach trinken.«
»Über die Luft«, sagte ich. »Sie atmen sie ein, ohne es zu merken.«
»Aha. Und wie willst du das anstellen?«
»Ganz einfach. Schalt den Tank hier nicht ab. Füttere das System mit den Bakterien. Ich möchte, dass die Anlage Viren produziert - haufenweise Viren. Dann geben wir sie in die Luft.«