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„Sie haben diesen Herrn gekränkt, Kühlgamme.“

„Nicht willentlich, Herr Direktor, und eigentlich war’s keine Kränkung. Ich könnte Ihnen Hunderte nennen, die es sich zur Ehre anrechnen würden, von mir geduzt zu werden.“

Krone der Unverschämtheit. Unglaublich.

„Es ist mir einfach entschlüpft, Herr Dr. Nettlinger. Ich bin ein alter Mann und stehe so halbwegs unter dem Schutz des Paragraphen einundfünfzig.“

„Der Herr verlangt Genugtuung…“

„Auf der Stelle. Ich rechne es mir, wenn Sie gestatten, nicht zur Ehre an, von Hotelportiers geduzt zu werden.“

„Bitten Sie den Herrn um Entschuldigung.“

„Ich bitte den Herrn um Entschuldigung.“

„Nicht in diesem Ton.“

„In welchem Ton denn? Ich bitte den Herrn um Entschuldigung, ich bitte den Herrn um Entschuldigung, ich bitte den Herrn um Entschuldigung. Das sind die drei Töne, die mir zur Verfügung stehen, und nun suchen Sie sich bitte den Ton, der Ihnen passt, aus. Sehen Sie, mir kommt’s gar nicht auf ’ne Demütigung an. Ich knie mich glatt hin, auf den Teppich hier, schlag mir an die Brust, ein alter Mann, der allerdings auch auf eine Entschuldigung wartet. Bestechungsversuch, Herr Direktor. Die Ehre unseres altrenommierten Hauses stand auf dem Spiel. Ein Berufsgeheimnis für dreißig lumpige Mark? Ich fühle mich in meiner Ehre getroffen und in der Ehre dieses Hauses, dem ich schon mehr als fünfzig Jahre diene, genau gesagt: sechsundfünfzig Jahre.“

„Ich bitte Sie, diese peinliche und lächerliche Szene abzubrechen.“

„Führen Sie den Herrn sofort ins Billardzimmer, Kühlgamme.“

„Nein.“

„Sie führen den Herrn ins Billardzimmer.“

„Nein.“

„Es würde mich betrüben, Kühlgamme, wenn das uralte Dienstverhältnis, das Sie mit diesem Haus verbindet, an der Verweigerung eines einfachen Befehls scheitern sollte.“

„In diesem Haus, Herr Direktor, ist nicht ein einziges Mal der Wunsch eines Gastes, ungestört zu bleiben, missachtet worden. Ausgenommen natürlich die Fälle höherer Gewalt. Geheime Staatspolizei. Da waren wir machtlos.“

„Betrachten Sie meinen Fall als einen Fall höherer Gewalt.“

„Sie kommen von der geheimen Staatspolizei?“

„Ich verbitte mir eine solche Frage.“

„Sie werden den Herrn jetzt ins Billardzimmer führen, Kühlgamme.“

„Wollen Sie, Herr Direktor, als erster das Banner der Diskretion beflecken?“

„Dann werde ich selber Sie ins Billardzimmer führen, Herr Doktor.“

„Nur über meine Leiche, Herr Direktor.“

Man muss so korrupt sein wie ich, so alt wie ich, um zu wissen, dass es Dinge gibt, die nicht käuflich sind; Laster ist nicht mehr Laster, wenn es keine Tugend mehr gibt, und was Tugend ist, kannst du nicht wissen, wenn du nicht weißt, dass es sogar Huren gibt, die gewisse Kunden abweisen. Aber ich hätte es wissen müssen, dass du ein Schwein bist. Wochenlang hab ich mit dir oben in meinem Zimmer geübt, wie man diskret ein Trinkgeld entgegennimmt, mit Groschenstücken, mit Markstücken und mit Scheinen; das muss man können: Geld diskret in Empfang nehmen, denn Trinkgeld ist die Seele des Berufs. Ich hab’s mit dir geübt, war eine Mordsarbeit, dir das beizubringen, aber du wolltest mich dabei beschwindeln, wolltest mir weismachen, wir hatten zum Üben nur drei Markstücke gehabt, aber es waren vier, und du wolltest mich um eins beschwindeln. So ein Schwein bist du schon immer gewesen, du wusstest nie, dass es das gab: ‚So was tut man nicht‘, und tust jetzt wieder was, was man nicht tut. Hast das Trinkgeldannehmen inzwischen gelernt, und sicher sind’s nicht einmal dreißig Silberlinge gewesen.

„Sie gehen jetzt sofort zum Empfang zurück, Kühlgamme, ich übernehme diese Sache. Treten Sie beiseite, ich warne Sie.“

Nur über meine Leiche, und es ist doch schon zehn vor elf, und in zehn Minuten wird er sowieso die Treppe herunterkommen. Ihr hättet nur ein bisschen nachzudenken brauchen, dann wäre uns das ganze Theater erspart geblieben, aber auch für zehn Minuten: Nur über meine Leiche. Ihr habt nie gewusst, was Ehre ist, weil ihr nicht wusstet, was Unehre ist. Hier steh ich, Jochen, Hotelfaktotum, korrupt, von oben bis unten voll lasterhaften Wissens, aber nur über meine Leiche kommt ihr ins Billardzimmer.

Kapitel III

Er spielte schon lange nicht mehr nach Regeln, wollte nicht Serien spielen, Points sammeln; er stieß eine Kugel an, manchmal sanft, manchmal hart, scheinbar sinnlos und zwecklos. Sie hob, indem sie die beiden anderen berührte, für ihn jedesmal eine neue geometrische Figur aus dem grünen Nichts; Sternenhimmel, in dem nur wenige Punkte beweglich waren; Kometenbahnen, weiß über grün, rot über grün geschlagen; Spuren leuchteten auf, die sofort wieder ausgelöscht wurden; zarte Geräusche deuteten den Rhythmus der gebildeten Figur an: fünfmal, sechsmal, wenn die angestoßene Kugel die Bande oder die anderen Kugeln berührte; nur wenige Töne hoben sich aus der Monotonie heraus, hell oder dunkel; die wirbelnden Linien waren alle an Winkel gebunden, unterlagen geometrischen Gesetzen und der Physik; die Energie des Stoßes, die er durch das Queue dem Ball mitteilte, und ein wenig Reibungsenergie; alles nur Maß; es prägte sich dem Gehirn ein; Impulse, die sich zu Figuren umprägen ließen; keine Gestalt und nichts Bleibendes, nur Flüchtiges, löschte sich im Rollen der Kugel wieder aus; oft spielte er halbe Stunden lang nur mit einem einzigen Balclass="underline" weiß über grün gestoßen, nur ein einziger Stern am Himmel; leicht, leise, Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; kaum Farbe, nur Formel.

Der blasse Junge bewachte die Tür, lehnte gegen das weißlackierte Holz, die Hände auf dem Rücken, die Beine gekreuzt, in der violetten Uniform des Prinz Heinrich.

„Sie erzählen mir heute nichts, Herr Doktor?“

Er blickte auf, stellte den Stock ab, nahm eine Zigarette, zündete sie an, blickte zur Straße hin, die im Schatten von Sankt Severin lag. Lehrjungen, Lastwagen, Nonnen: Leben auf der Straße; graues Herbstlicht fiel von dem violetten Samtvorhang fast silbern zurück; von Velourvorhängen eingerahmt, frühstückten verspätete Gäste; selbst die weichgekochten Eier sahen in dieser Beleuchtung lasterhaft aus, biedere Hausfrauengesichter wirkten in diesem Licht verworfen; Kellner, befrackt, mit einverstandenen Augen, sahen aus wie Beelzebubs[13], Asmodis[14] unmittelbare Abgesandte; und waren doch nur harmlose Gewerkschaftsmitglieder, die nach Feierabend beflissen die Leitartikel ihres Verbandsblättchens lasen; sie schienen hier ihre Pferdefüße unter geschickten orthopädischen Konstruktionen zu verbergen; wuchsen nicht elegante kleine Hörner aus ihren weißen, roten und gelben Stirnen? Der Zucker in den vergoldeten Dosen schien nicht Zucker zu sein; Verwandlungen fanden hier statt, Wein war nicht Wein, Brot nicht Brot, alles wurde zum Ingrediens geheimnisvoller Laster ausgeleuchtet; hier wurde zelebriert; und der Name der Gottheit durfte nicht genannt, nur gedacht werden.

„Erzählen, Junge, was?“

Seine Erinnerung hatte sich nie an Worte und Bilder gehalten, nur an Bewegungen. Vater, das war sein Gang, die kokette Kurve, die das rechte Hosenbein mit jedem Schritt beschrieb, rasch, so dass das dunkle blaue Stoßband nur für einen Augenblick sichtbar wurde, wenn er morgens an Gretzens Laden vorüber ins Cafe Kroner ging, um dort zu frühstücken; Mutter, das war die kompliziert – demütige Figur, die ihre Hände beschrieben, wenn sie sie auf der Brust faltete, immer kurz bevor sie eine Torheit aussprach: wie schlecht die Welt sei, wie wenig reine Herzen es gebe; ihre Hände schrieben es in die Luft, bevor sie es aussprach; Otto, das waren seine marschierenden Beine, wenn er durch den Hausflur ging, in Stiefeln, die Straße hinunter; Feindschaft, Feindschaft, schlug der Takt auf die Fliesen, schlugen diese Füße, die in den Jahren davor einen anderen Takt geschlagen hatten: ‚Bruder, Bruder.‘ Großmutter: die Bewegung, die sie siebzig Jahre lang gemacht hatte, und die er viele Male am Tag von seiner Tochter ausgeführt sah; jahrhundertalte Bewegung, die sich vererbte und ihn jedesmal erschrecken ließ; seine Tochter Ruth hatte ihre Urgroßmutter nie gesehen; woher hatte sie diese Bewegung? Ahnungslos strich sie sich das Haar aus der Stirn, wie ihre Urgroßmutter es getan hatte.

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13

Beelzebub (auch Belzebub, Beelzebul, Beelzebock) m – Teufel.

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14

Asmodis (gr. Asmaidos lat. Asmodaeus, Asmodäus, hebr. Aschmedai (Talmud)) – ein Dämon aus der Mythologie des Judentums (Buch Tobit 3,8,17).