Vom Ozean her zieht eine leichte Brise durch das Apartment und bringt ein wenig Erleichterung. Durch die Moskitonetze hindurch schaut er in die Dunkelheit der Stadt. Nachts werden alle Methanlampen ausgeschaltet. In der Ferne kann er ein schwaches Glimmen ausmachen, dort, wo die schwimmenden Siedlungen von Thonburi liegen, deren Bewohner sich mit ihren Fischfarmen von einer Kreation der Genhacker zur nächsten hangeln, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Jemand ist an der Haustür. Ein hartnäckiges Klopfen.
Emiko reißt die Augen auf. Sie fährt hoch. »Was ist das?«
»Da ist jemand an der Tür.« Er will schon aus dem Bett steigen, doch sie hält ihn so stark fest, dass sich ihm ihre Fingernägel ins Fleisch bohren.
»Nicht aufmachen«, flüstert sie. Ihre blasse Haut schimmert im Mondlicht, und in ihren Augen spiegelt sich nackte Angst. »Bitte.« Die Schläge gegen die Tür werden lauter. Dumpf, beharrlich.
»Warum denn nicht?«
»Ich … «, sie unterbricht sich. »Es sind Weißhemden.«
»Wie bitte?« Andersons Herz setzt für einen Moment aus. »Sind sie dir etwa hierher gefolgt? Warum? Was ist vorgefallen? «
Elendig schüttelt sie den Kopf. Er starrt sie an und fragt sich, was für ein Tier da in sein Leben eingedrungen sein mag. »Was ist gestern Abend wirklich passiert?«
Sie gibt keine Antwort. Behält weiterhin die Tür im Auge, die weiter von Schlägen malträtiert wird. Anderson steigt aus dem Bett und eilt zur Haustür. »Einen Moment!«, ruft er hinaus. »Ich ziehe mir nur schnell etwas an.«
»Anderson!« Die Stimme vor der Tür gehört Carlyle. »Machen Sie auf! Es ist wichtig!«
Anderson wirft Emiko über die Schulter hinweg einen beruhigenden Blick zu. »Keine Weißhemden. Jetzt versteck dich.«
»Nein?« Einen Moment wirkt sie erleichtert. Doch genauso schnell ist dieser Ausdruck auch schon wieder verschwunden. Sie schüttelt den Kopf. »Du irrst dich.«
Anderson starrt sie wütend an. »Hast du dich etwa mit Weißhemden angelegt? Hast du deswegen all diese Verletzungen? «
Wieder schüttelt sie nur stumm den Kopf und rollt sich dann schützend zusammen, wie ein Häufchen Elend.
»Jesus und Noah.« Anderson geht zum Kleiderschrank und zieht ein paar Sachen hervor, die er Emiko zuwirft. Geschenke und zugleich Beweise dafür, wie sehr er von ihr berauscht ist. »Du magst ja bereit sein, das mit uns öffentlich zu machen, aber ich möchte meinen Ruf nicht vollkommen ruinieren. Zieh dich an. Versteck dich im Schrank.«
Wieder schüttelt sie den Kopf. Auch wenn er sich vorkommt, als würde er gegen eine Wand reden, versucht Anderson noch einmal, an ihre Vernunft zu appellieren. Vor ihr kniend, legt er eine Hand unter ihr Kinn und bringt sie dazu, ihn anzuschauen. Er bemüht sich um einen ruhigen Tonfall.
»Es ist einer meiner Geschäftspartner. Das hier hat mit dir nichts zu tun. Aber ich möchte trotzdem, dass du dich so lange versteckst, bis er wieder fort ist. Er soll uns nicht zusammen sehen. Damit hätte er ein Druckmittel gegen mich in der Hand.«
Langsam verliert sich der blinde Ausdruck in Emikos Augen. Auch das fatalistische Flackern in ihrem Blick lässt nach. Carlyle hämmert erneut gegen die Tür. Emikos Blick huscht von der Tür zu Anderson. »Es sind Weißhemden«, haucht sie. »Viele von ihnen. Ich kann sie hören.« Mit einem Mal wirkt sie ganz gefasst. »Da kommen Weißhemden. Sich zu verstecken hilft nicht.«
Anderson unterdrückt den Wunsch, sie anzuschreien. »Das sind nicht die Weißhemden.«
Das hämmernde Klopfgeräusch lässt nicht nach. »Verflucht nochmal, Anderson, jetzt machen Sie endlich auf!«
»Eine Sekunde noch!«, ruft Anderson zurück. Er zieht eine Hose aus dem Schrank und wirft Emiko einen wütenden Blick zu. »Das sind nicht die verdammten Weißhemden. Carlyle würde sich lieber eigenhändig die Kehle durchschneiden, als mit ihnen gemeinsame Sache zu machen.«
Carlyles Stimme dringt durch die Tür. »Gottverdammt, nun machen Sie endlich auf!«
»Komme schon!« Er wendet sich Emiko zu und schlägt einen Befehlston an. »Versteck dich! Sofort.« Der Wechsel von einer Bitte zum Befehl zielt direkt auf ihr genetisches Erbe und auch auf ihre Konditionierung.
Ihr Körper erstarrt, doch dann fährt plötzlich wieder Leben in sie. Ein Nicken. »Ja. Ich werde tun, was du verlangst. «
Sie ist bereits dabei, sich anzuziehen. Ihre abgehackten Bewegungen sind so blitzartig, dass sie vor seinen Augen zu verschwimmen scheinen. Ihre Haut schimmert hell, während sie sich ein Paar weite Hosen und eine Bluse überzieht. Sie ist geradezu bestürzend schnell. Ihre Bewegungen werden fließender, auf seltsame Art anmutig.
»Verstecken hilft nicht«, sagt sie wie zu sich selbst. Dann dreht sie sich um und sprintet in Richtung Balkon.
»Was hast du vor?«
Sie dreht sich zu ihm um und schenkt ihm ein Lächeln, als wollte sie noch etwas sagen, doch stattdessen stürzt sie sich einfach über die Brüstung und verschwindet in der Dunkelheit.
»Emiko!« Anderson rennt auf die Veranda.
Unten ist nichts zu sehen. Keine Menschenseele. Kein Schrei ist zu hören, kein gedämpfter Aufschlag, keine empörten Ausrufe, die ihr Aufklatschen auf der Straße begleiten. Rein gar nichts. Nur Leere. Als hätte die Nacht sie verschluckt. Das Klopfen an der Tür hört nicht auf.
Andersons Herz schlägt ihm dumpf gegen den Brustkorb. Wo ist sie? Wie hat sie das gemacht? Es ist widernatürlich! Am Ende war sie so schnell, so entschlossen. Im einen Moment stand sie noch auf dem Balkon, dann war sie auch schon fort. Anderson späht in die Dunkelheit. Ausgeschlossen, dass sie einen der anderen Balkone erreichen könnte, und doch … Ist sie hinuntergestürzt? Ist sie tot?
Mit einem lauten Krach fliegt die Tür aus den Angeln. Anderson fährt herum. Carlyle stolpert in den Raum.
»Was zum …?«
Carlyle wird von Schwarzen Panthern, die hinter ihm in die Wohnung strömen, beiseitegeschleudert. Das trübe Licht fängt sich in ihren Kampfanzügen. Schattensoldaten. Einer von ihnen packt Anderson, wirbelt ihn herum und stößt ihn gegen die Wand. Er wird durchsucht. Als er Gegenwehr leistet, drischt der Soldat Andersons Gesicht gegen die Wand. Immer mehr Männer ergießen sich in die Wohnung. Türen werden aufgetreten, Holz splittert. Um ihn herum hallt das dumpfe Stampfen schwerer Stiefel wider. Eine Lawine aus Leibern. Glas splittert. Das Geschirr in der Küche geht zu Bruch.
Anderson verrenkt sich den Hals, um etwas erkennen zu können. Doch sofort fährt ihm eine Hand ins Haar und drückt sein Gesicht wieder gegen die Wand. In seinem Mund breitet sich ein heftiger Schmerz aus, er schmeckt Blut. Er hat sich auf die Zunge gebissen. »Was zum Teufel geht hier vor? Wissen Sie, wen Sie vor sich haben?«
Sein Redefluss bricht ab, als Carlyle neben ihm auf den Boden geworfen wird. Jetzt erst bemerkt er, dass der Mann gefesselt ist. Sein Gesicht ist von blauen Flecken übersät. Ein Auge ist komplett zugeschwollen, und rund um die Augenhöhle kleben schwarze Blutkrusten. Auch das braune Haar ist voller Blut.
»Herrgott nochmal.«
Die Einsatzkräfte zerren ihm beide Arme hinter den Rücken und binden sie dort zusammen. Mit einer Hand im Haar reißen sie ihn wieder herum. Ein Soldat schreit ihn an, doch weil der Mann so schnell spricht, kann er ihn nicht verstehen. Er sieht zornig aus, seine Augen sind weit aufgerissenen. Spucke fliegt ihm ins Gesicht. Endlich kann er ein Wort ausmachen: Heechy-Keechy.
»Wo ist das Aufziehmädchen? Wo ist sie? Wo? Wo?«
Die Panther nehmen seine ganze Wohnung auseinander. Gewehrkolben brechen sämtliche Schlösser und Türen auf. Große, schwarze Aufziehdoggen drängen bellend und sabbernd in alle Räume, schnüffeln an allem herum und nehmen unter lautem Jaulen eine Spur auf. Wieder schreit ihm ein Mann ins Gesicht, ein Hauptmann offenbar.