»Die Farang-Fabrik?«
Sein Eifer entlockt Kanya beinahe erneut ein Lächeln. »Wir können doch die Quelle der Verunreinigung nicht verschonen. Ist das nicht unsere Aufgabe?«
»Sie sind ein neuer Tiger!«, ruft Pai aus. Er gibt ihr einen Klaps auf den Rücken, wird sich dann jedoch wieder seines Ranges bewusst. Mit einem entschuldigenden Wai eilt er zur Vernichtung des Dorfes zurück.
»Ein neuer Tiger«, murmelt Jaidee an ihrer Seite. »Wie schön für Sie.«
»Das ist allein Ihre Schuld. Sie haben sie darauf abgerichtet, einem Radikalen zu folgen.«
»Und so fällt die Wahl also auf Sie?«
Kanya seufzt. »Es reicht offensichtlich bereits aus, eine brennende Fackel vor sich herzutragen.«
Darüber muss Jaidee lachen.
Hinter den Deichen steht bereits ein Spannfederroller für sie bereit. Der Junge steigt auf und wartet, bis Kanya hinter ihm zu sitzen kommt. Die Fahrt führt sie mitten ins städtische Straßengewirr hinein, in dem sie sich zwischen Megodonten und Fahrrädern hindurchschlängeln. Ihre kleine Drucklufthupe tutet unentwegt. Die Stadt zieht an ihnen vorüber: Fischverkäufer, Stoffhändler, Männer, die ihre Phra-Seub-Amulette anpreisen, über die Jaidee sich so oft lustig gemacht hat; doch Kanya trägt heimlich selbst eines, an einer schmalen Kette dicht über dem Herzen.
Gerade eben noch, bevor sie das Dorf verließ, hat sie es noch berührt, und sein Kommentar dazu lautete: »Zu viele Götter, bei denen Sie sich einschmeicheln wollen.« Doch sie hat seinen Spott ignoriert und Phra Seub hoffnungsvoll flüsternd um Schutz gebeten, den sie, wie sie wusste, eigentlich nicht verdiente.
Mit einem Schlenker kommt der Roller zum Stehen, und sie springt ab. Das zarte Gold des Stadtschreins funkelt in der Morgensonne. Ringsum bieten Frauen Kränze aus Ringelblumen als Opfergabe feil. Der rituelle Gesang der Mönche vermischt sich mit der Begleitmusik von Khon-Tänzen und wird über die weiß getünchten Mauern nach draußen getragen. Bevor sie dem Jungen danken kann, ist er auch schon wieder verschwunden. Nur einer von vielen, die Akkarat einen Gefallen schulden. Wahrscheinlich war der Roller ein Geschenk, und Loyalität der Preis dafür.
»Und was ist sein Geschenk an dich, teuerste Kanya?«, fragt Jaidee.
»Das wissen Sie doch,« murmelt Kanya. »Ich erhalte das, was ich mir geschworen habe, dass ich es bekommen werde.«
»Und ist es immer noch das, wonach es Sie verlangt?«
Anstatt ihm eine Antwort zu geben, tritt sie über die Schwelle ins Innere des Schreins. Sogar bei Tagesanbruch ist der heilige Ort bereits voller Gläubiger, die alle vor den Buddhastatuen und dem Phra-Seub-Schrein kauern, der einzig dem des Ministeriums an Größe nachsteht. Geschäftig wuseln die Menschen durcheinander, bieten Blumen und Früchte dar, lassen sich die Zukunft mit Hilfe von hölzernen Zeremonienstäben voraussagen — und über alldem erhebt sich der Gesang der Mönche, die die Stadt zu beschützen versuchen mit ihren Gebeten, den Amuletten und dem Sai Sin, der sich vom Schrein bis hin zu den Dämmen und Pumpen spannt. Der heilige Faden schwankt im Zwielicht; dort, wo er auf die Verkehrsstraßen trifft, halten ihn Pfähle empor. Ausgehend von diesem geheiligten Zentrum erstreckt er sich kilometerweit bis zu den Pumpen, von wo er dann einmal um die Deiche herum führt. Der Singsang der Mönche gleicht einem stetigen Summen, das die Stadt der Engel vor den gierigen Wogen bewahrt.
Auch Kanya kauft Weihrauch und Früchte als Opfergaben und geht über die marmornen Stufen hinab in die kühlen Innenräume des Schreins. Dort kniet sie vor der Stadtsäule Ayutthayas, das geplündert wurde, und vor der größeren Säule Bangkoks. Der Ort, von dem aus alle Strecken gemessen werden. Das Herz von Krung Thep und gleichzeitig das Haus der Geister, die über die Stadt wachen. Wenn sie sich in den Türrahmen des Schreins stellt und in Richtung Dämme blickt, kann sie die hoch aufragenden Schutzwälle erkennen. Es ist nicht zu übersehen, dass sie in den Tiefen einer Badewanne hausen. Auf jeder Seite von Wasser umschlossen. Dieser Schrein … Sie zündet die Räucherstäbchen an und zollt den Göttern ihren Respekt.
»Fühlt es sich nicht verlogen an, ausgerechnet hierher zu kommen, nur weil die vom Handelsministerium es so wollen? «
»Seien Sie still, Jaidee.«
Jaidee kniet sich neben sie. »Na ja, wenigstens bringen Sie gute Früchte mit.«
»Seien Sie still.«
Sie würde gerne beten, doch solange Jaidee sie nicht in Ruhe lässt, ist das vergebliche Liebesmüh. Nach einer weiteren Minute gibt sie es auf und geht wieder hinaus in die aufsteigende Hitze und Helligkeit des neuen Tags. Narong ist bereits da; an einen der Pfähle gelehnt, sieht er den Khon-Tänzen zu. Im Rhythmus der Trommeln vollführen die Tänzer stilisierte Drehungen, und ihre hohen Stimmen wetteifern mit dem tiefen Brummen der im Hof aufgereihten Mönche. Kanya gesellt sich zu ihm.
Narong hebt eine Hand. »Warten Sie bis zum Ende.«
Während sie sich einen Sitzplatz sucht, gelingt es ihr, den aufsteigenden Ärger zu bezwingen. Die Geschichte von Rama entfaltet sich vor ihren Augen. Endlich nickt Narong zufrieden. »Großartig, nicht wahr?« Er deutet mit dem Kopf in Richtung des Schreins. »Haben Sie Ihre Opfergaben bereits dargebracht?«
»Interessiert Sie das?«
Es haben sich noch andere Weißhemden im Hof versammelt, die, jeder für sich, den Göttern huldigen. Sie bitten um Beförderungen, mehr Geld. Wünschen sich Erfolg für ihre Nachforschungen. Erbitten sich Schutz vor den Krankheiten, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben. Auf seine Weise ist dieser Schrein wie für das Umweltministerium geschaffen. Er ist fast genauso bedeutend wie der von Phra Seub, dem Märtyrer der Artenvielfalt. Es macht sie nervös, diese Unterhaltung mit Narong in aller Öffentlichkeit zu führen, doch ihm scheint das überhaupt nichts auszumachen.
»Wir alle lieben diese Stadt«, sagt er. »Auch Akkarat würde alles tun, um sie zu verteidigen.«
Kanya schneidet eine Grimasse. »Was wollen Sie von mir?«
»So ungeduldig! Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen.«
Sie zieht ein verdrießliches Gesicht. Narong scheint es in keinster Weise eilig zu haben, und doch hat er sie abbeordert, als würde es sich um einen Notfall handeln. »Ist Ihnen klar, von wo Sie mich weggeholt haben?«, fragt sie mit mühsam unterdrückter Wut.
»Erzählen Sie mir davon, während wir ein Stück gehen.«
»Ich habe ein Dorf mit fünf Toten, ohne dass wir die Ursache isolieren konnten.«
Er wirft ihr einen interessierten Blick zu. »Eine neue Cibiskose? « Er führt sie an den Blumenverkäuferinnen vorbei hinaus auf die Straßen. Läuft immer weiter.
»Das wissen wir nicht.« Sie wischt ihre Enttäuschung beiseite. »Im Moment verhindern Sie allerdings, dass ich der Sache weiter nachgehe, und auch wenn es Ihnen vielleicht Vergnügen bereiten mag, mich wie einen Hund herbeizupfeifen …«
»Wir haben ein Problem«, unterbricht Narong sie. »Wenn Sie denken, Ihr kleines Dorf sei von Bedeutung, so ist das doch gar nichts im Vergleich mit dieser Sache. Es hat einen Todesfall gegeben. Eine führende Persönlichkeit. Wir benötigen Ihre Hilfe bei den Nachforschungen.«
Sie lacht auf. »Ich gehöre nicht zur Polizei.«
»Das ist auch keine Polizeiangelegenheit. Es ist ein Aufziehmensch im Spiel.«
Kanya bleibt unvermittelt stehen. »Ein was?«
»Die Mörderin. Wir vermuten, dass jemand sie geschickt hat. Eine militärische Aufzieheinheit. Eine Heechy-Keechy.«
»Wie ist das möglich?«
»Das ist eines der Dinge, die wir herauszufinden versuchen. « Narong sieht sie mit ernster Miene an. »Und wir sind nicht in der Lage, der Frage nachzugehen, da General Pracha das Aufziehmädchen zur verbotenen Kreatur erklärt und somit die Leitung der Ermittlungen an sich gerissen hat. Als handelte es sich hier um eine Cheshire oder einen Yellow-Card-Flüchtling. « Er lacht freudlos. »Uns sind die Hände gebunden. Sie werden für uns Nachforschungen anstellen.«