»Das ist nicht so einfach. Dieser Fall ist mir nicht zugeteilt worden. Pracha wird nicht …«
»Er vertraut Ihnen.«
»Mir in Hinsicht auf meine Arbeit zu vertrauen und mir zu gestatten, dass ich mich in einen solchen Fall einmische, sind zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe.« Schulterzuckend wendet sie sich ab. »Das ist unmöglich.«
»Nein!« Narong packt sie und zerrt sie zu sich heran. »Es ist überlebenswichtig! Wir müssen alle Einzelheiten herausbekommen! «
Kanya wirbelt herum und schüttelt Narongs Hand ab. »Warum? Was ist so wichtig an diesem Fall? Jeden Tag sterben Menschen in Bangkok, überall. Wir finden mehr Leichen, als wir in die Methankomposter hineinschaufeln können. Was ist ausgerechnet an diesem Todesfall so besonders, das es rechtfertigen würde, dem General in die Quere zu kommen?«
Narong zieht sie wieder näher zu sich heran. »Es handelt sich um den Somdet Chaopraya. Wir haben den Beschützer der Krone verloren.«
Kanyas Knie geben nach. Narong hält sie aufrecht und redet immer weiter auf sie ein, zornig, drängend. » In der Politik wird mit weit härteren Bandagen vorgegangen, seit ich bei diesem Spiel mitmische.« Das Lächeln auf seinem Gesicht täuscht Kanya nicht über die schwelende Wut hinweg, die darunter lauert. »Sie sind ein braves Mädchen, Kanya. Wir haben uns immer an unseren Teil der Abmachung gehalten. Deswegen sind Sie schließlich hier. Ich weiß, dass es schwierig wird. Sie fühlen sich Ihren Vorgesetzten im Umweltministerium gegenüber zur Loyalität verpflichtet. Sie beten zu Phra Seub. Das ist ehrenhaft. Sie machen das richtig so. Doch jetzt benötigen wir Ihre Hilfe. Selbst wenn Sie Akkarat mittlerweile nichts mehr abgewinnen können — der Palast verlangt, dass Sie handeln.«
»Was wollen Sie?«
»Wir müssen wissen, ob Pracha dahintersteckt. Er hat die Ermittlung, ohne zu zögern, an sich gerissen. Wir müssen einfach wissen, ob er derjenige war, der das Messer führte. Ihr Patron und die Sicherheit des Königshauses hängen davon ab. Möglicherweise möchte Pracha etwas verbergen. Es könnten einige seiner Leute vom zwölften Dezember sein, die uns angreifen.«
»Das ist nicht möglich …«
»Es kommt ihm einfach zu gelegen. Weil der Täter ein Aufziehmädchen ist, sind wir völlig außen vor.« Narongs Stimme überschlägt sich plötzlich vor Erregung. »Wir müssen erfahren, ob diese Kreatur von Ihrem Ministerium eingeschleust wurde.« Er reicht ihr ein Bündel Geldscheine. »Bestechen Sie jeden, der Ihnen in die Quere kommt«, sagt er.
Sie schüttelt ihre Bestürzung ab, nimmt das Geld an sich und stopft es in die Taschen. Er berührt sie sanft. »Es tut mir wirklich leid, Kanya. Sie sind meine letzte Hoffnung. Ich brauche Sie, um unsere Feinde aufspüren, damit wir sie unschädlich machen können.«
Mitten am Tag herrscht in den Türmen von Ploenchit eine brütende Hitze. Aufgrund der vielen Ermittlungsbeamten, die sich in den düsteren Räumen des Nachtclubs drängen, heizt sich die drückende Schwüle noch weiter auf. Es ist ein schlechter Ort zum Sterben. Ein Ort des Hungers, der Verzweiflung und der ungestillten Begierden. In den Gängen versammeln sich Palastangestellte. Während Prachas Leute ihre Spurensuche durchführen, warten sie darauf, den Leichnam des Somdet Chaopraya für die Einäscherung abholen zu können. Sie beobachten alles und beratschlagen sich. In diesem schmachvollen und beängstigenden Moment ist die Luft von Sorge und Wut erfüllt, und jegliche Höflichkeit ist zu einer messerscharfen Waffe geworden. Die Spannung, die in diesen Räumen herrscht, gleicht der kurz vor Monsunbeginn, wenn sich die Luft unter düster dahinziehenden Wolken auflädt.
Die erste Leiche liegt im Barbereich auf der Erde, ein älterer Farang, unwirklich und fremd. Er weist kaum Spuren äußerlicher Gewalteinwirkung auf, sieht man von den Blutergüssen am Hals ab. Ihm ist die Kehle zerschmettert worden, unter Qualen muss er an seiner zertrümmerten Luftröhre erstickt sein. Er liegt aufgebläht neben der Bar hingestreckt und ähnelt dabei einer Wasserleiche, die gerade aus dem Fluss gezogen wurde. Ein Ganove, der jetzt nur noch als Fischköder taugt. Der alte Mann sieht sie aus weit aufgerissenen blauen Augen an — zwei ausdruckslose Seen. Wortlos nimmt Kanya die Zerstörung zur Kenntnis; dann lässt sie sich von General Prachas Sekretär in die inneren Gemächer führen.
Dort stockt ihr der Atem.
Alles ist mit Blut vollgespritzt. Es klebt an den Wänden und hat sich über den Boden verteilt. Leichen liegen wild übereinander. Und unter diesen Leichen befindet sich auch der Somdet Chaopraya. Sein Hals ist nicht eingedrückt wie der des alten Farang, ihm wurde vielmehr die Kehle herausgerissen, als wäre er einem Tiger zum Opfer gefallen. Seine mehrere Mann starke Leibwache liegt ebenfalls tot da — einem von ihnen steckt die Scheibe einer Federpistole in der Augenhöhle, ein anderer hält seine eigene Waffe immer noch fest umklammert, ist aber mit Scheiben übersät.
»Kot Rai«, haucht Kanya. Sie zögert unsicher; was ist wohl angesichts eines solchen Gemetzels zu tun? Elfenbeinkäfer rudern durch den blutigen Schaum. Überall dort, wo sie entlanggekrabbelt sind, ziehen sich ihre kleinen Spuren durch die geronnene Masse.
Pracha ist ebenfalls hier und berät sich gerade mit seinen Untergebenen. Als er hört, wie Kanya ungläubig nach Luft schnappt, blickt er auf. In den Gesichtern der anderen spiegeln sich Schock, Furcht und Scham. Allein der Gedanke, dass Pracha so ein Blutbad planen könnte, lässt Kanya erschaudern. Die Ungeheuerlichkeit dieser Tat dreht ihr den Magen um, auch wenn der Somdet Chaopraya kein Freund des Umweltministeriums war. Es ist eine Sache, einen Staatsstreich zu planen oder eine Untergrundbewegung ins Leben zu rufen, eine andere, den Palast anzugreifen. Sie fühlt sich wie ein Bambusblatt, das in den Stromschnellen einer reißenden Flut versinkt.
Und so müssen wir alle sterben, denkt sie. Am Ende sind auch die Reichsten und Mächtigsten unter uns nicht mehr als Futter für die Cheshire. Wir sind alle nur wandelnde Leichen, und es ist töricht, diese Tatsache zu vergessen. Wenn du über das Wesen von Leichen nachsinnst, wirst du das verstehen.
Und doch verunsichert es sie, mit der Sterblichkeit eines Wesens konfrontiert zu werden, das sie für unsterblich gehalten hat — ja, es versetzt sie geradezu in Panik. General, was haben Sie nur getan? Es ist einfach zu entsetzlich, um es auch nur in Erwägung zu ziehen. Die Strömung droht sie zu verschlingen.
»Kanya?« Pracha winkt sie zu sich. Sie sucht sein Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen von Schuldbewusstsein ab, doch er wirkt einfach nur verwirrt. »Was tun Sie hier?«
»Ich …« Eigentlich hatte sie sich etwas zurechtgelegt. Eine Entschuldigung. Doch hier, in Gegenwart der Leichen des Beschützers der Krone und seines Gefolges, kann sie sich nicht mehr daran erinnern. Prachas Blick folgt dem ihren hin zum Leichnam des Somdet. Er fasst sie behutsam am Arm. Seine Stimme wird sanft. »Kommen Sie. Das ist zu viel für Sie.« Er führt sie hinaus.
»Ich …«
Pracha schüttelt den Kopf. »Sie haben es also bereits erfahren. « Er seufzt auf. »Heute Abend wird es die ganze Stadt wissen.«
Endlich findet Kanya die Sprache wieder und lässt ihre Lügen vom Stapel, um die Rolle zu erfüllen, für die Narong sie vorgesehen hat. »Ich wollte nicht glauben, dass es wahr ist.«
»Nicht nur das.« Ein grimmiges Kopfschütteln. »Der Täter ist auch noch ein Aufziehwesen.«