Anderson will antworten, doch er wird von einem erneuten Hustenkrampf erfasst. Er ringt nach Luft und versucht, seine Lunge unter Kontrolle zu bekommen, doch das Husten will einfach nicht aufhören. Die Handschellen schneiden ihm bei jedem neuerlichen Krampf in die Handgelenke. Seine Rippen sind inzwischen nur noch ein einziger Schmerz. Carlyle sagt kein Wort. Seine Stirn ist blutüberströmt. Anderson weiß nicht, ob er sich gegen die Soldaten gewehrt hat oder ob er gefoltert wurde.
»Gebt ihm ein Glas Wasser«, sagt Akkarat.
Andersons Bewacher schubsen ihn gegen die Wand und bedrängen ihn, bis er auf dem Boden sitzt. Er kann nur knapp verhindern, dass der gebrochene Finger in Mitleidenschaft gezogen wird. Das Wasser wird gebracht.
Einer der Wächter hält Anderson das Glas an die Lippen. Kaltes Wasser. Mit geradezu absurder Dankbarkeit beginnt Anderson zu trinken. Das Husten lässt nach. Er hebt den Blick, um Akkarat anzusehen. »Danke.«
»Ja. Nun. Es sieht so aus, als hätten wir ein Problem«, beginnt Akkarat. »Ihre Aussage hat sich bestätigt. Allem Anschein nach ist dieses Aufziehmädchen schlicht aus der Art geschlagen, eine bösartige Einzelgängerin.«
Er hockt sich neben Anderson. »Wir alle haben einfach furchtbares Pech gehabt. Beim Militär sagt man, ein guter Schlachtplan hat auf dem Kampffeld höchstens fünf Minuten Bestand. Danach hängt alles davon ab, ob das Schicksal und die Geister dem Befehlshaber wohlgesinnt sind. Das alles war eine äußerst unglückliche Fügung. Damit müssen wir uns abfinden. Und nun stellen sich für mich natürlich noch ganz neue Probleme, die gelöst werden wollen.« Er deutet mit dem Kopf auf Carlyle. »Sie beide sind verständlicherweise verärgert über die Behandlung, die Sie erfahren haben.« Er verzieht das Gesicht. »Ich könnte mich dafür entschuldigen, aber ich befürchte, das würde nicht ausreichen.«
Anderson blickt ihm in die Augen und verzieht dabei keine Miene. »Wenn Sie uns etwas antun, wird es Sie teuer zu stehen kommen.«
»AgriGen wird uns eine Strafe auferlegen.« Akkarat nickt. »Ja, das ist ein Problem. Andererseits ist AgriGen sowieso ständig verärgert wegen uns.«
»Machen Sie mich los, und wir vergessen die ganze Sache. «
»Ich soll Ihnen vertrauen? Ich fürchte, das wäre keine besonders kluge Entscheidung.«
»Revolutionen sind ein hartes Geschäft. Ich trage Ihnen nichts nach.« Anderson gelingt ein wildes Grinsen — er muss Akkarat unbedingt überzeugen. »Wo kein Kläger, da kein Richter. Wir beide haben immer noch dasselbe Ziel. Es ist nichts vorgefallen, was sich nicht wiedergutmachen ließe.«
Nachdenklich legt Akkarat den Kopf schräg. Anderson fragt sich, ob ihm gleich jemand ein Messer zwischen die Rippen stoßen wird.
Unvermittelt erscheint ein Lächeln auf Akkarats Gesicht. »Sie sind ein zäher Bursche.«
Anderson unterdrückt einen Anflug von Hoffnung. »Reiner Pragmatismus. Unsere Interessen decken sich nach wie vor. Von unserem Tod hat niemand etwas. Hier handelt es sich doch nur um ein kleines Missverständnis, das wir ausräumen können.«
Akkarat denkt darüber nach. Dann bittet er einen ihrer Bewacher um ein Messer. Anderson hält den Atem an, als die Klinge sich ihm nähert, doch sie fährt nur zwischen seine Handgelenke, um ihn von den Fesseln zu befreien. Das Blut schießt ihm wieder in die Arme, die sofort zu kribbeln beginnen. Langsam versucht er, sie zu bewegen. Sie scheinen sich in Holzklötze verwandelt zu haben. Tausend Nadelstiche fahren ihm in die Finger. »Herrgott nochmal.«
»Es wird ein wenig dauern, bis sich der Kreislauf wieder erholt hat. Seien Sie froh, dass wir so sanft mit Ihnen umgesprungen sind.« Akkarat bemerkt, mit welcher Vorsicht Anderson die verletzte Hand hält. Er lächelt beschämt und entschuldigend. Ruft einen Arzt und geht dann zu Carlyle hinüber.
»Wo sind wir hier?«, fragt Anderson.
»In einer behelfsmäßigen Kommandozentrale. Als wir zu dem Schluss kamen, dass die Weißhemden in der Sache mit drinhingen, habe ich unsere Operationsbasis aus Sicherheitsgründen hierher verlegt.« Akkarat deutet mit dem Kopf auf die Spannfedertrommeln. »Unten im Erdgeschoss haben wir Megodonten-Teams, die Strom zu uns hochschicken. Und niemand hat eine Ahnung, dass wir hier eine Zentrale eingerichtet haben.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie über eine solche Einrichtung verfügen«
Akkarat lächelt. »Wir sind Verbündete und kein Liebespaar. Ich teile meine Geheimnisse nicht mit jedem.«
»Haben Sie das Aufziehmädchen inzwischen fassen können? «
»Das ist nur mehr eine Frage der Zeit. Ihr Bild hängt überall in der Stadt. Es wird ihr unmöglich sein, weiter unerkannt unter uns zu leben. Die Weißhemden zu bestechen ist eine Sache. Aber sie hat das Königshaus angegriffen.«
Anderson denkt an Emiko zurück und wie sie sich vor Angst zusammenkauerte. »Ich kann noch immer kaum glauben, dass ein Aufziehmädchen zu so etwas in der Lage sein soll.«
Akkarat blickt zu ihm auf. »Das ist durch Zeugenaussagen wie auch von dem Japaner, der sie konstruiert hat, bestätigt worden. Dieses Aufziehding ist ein Mörder. Wir werden sie aufspüren und auf die althergebrachte Weise hinrichten, und damit ist die Sache erledigt. Und die Japaner werden unvorstellbare Entschädigungssummen zahlen müssen, um für ihre kriminelle Unvorsichtigkeit aufzukommen.« Wieder lächelt er unvermittelt. »In dieser einen Sache zumindest sind die Weißhemden und ich uns einig.«
Carlyle wird von seinen Fesseln befreit. Ein Offizier ruft Akkarat zu sich.
Carlyle nimmt den Knebel ab. » Sind wir wieder Freunde?«
Anderson zuckt mit den Achseln und beobachtet das geschäftige Treiben um sie herum. »Soweit das während einer Revolution möglich ist.«
»Wie geht es Ihnen?«
Anderson tastet mit äußerster Vorsicht seinen Brustkorb ab. »Gebrochene Rippen.« Er deutet mit einem Kopfnicken auf die Hand, die gerade von dem Arzt geschient wird. »Der Finger ist hinüber. Mein Kinn scheint in Ordnung zu sein.« Er zuckt noch einmal mit den Achseln. »Und Ihnen?«
»Nicht ganz so schlimm. Vermutlich ist die Schulter verstaucht. Aber ich war ja auch nicht derjenige, der dem Somdet Chaopraya dieses fehlgeleitete Aufziehmädchen vorgestellt hat.«
Anderson muss husten und krümmt sich vornüber. »Ja, nun … Sie Glücklicher.«
Einer der Soldaten zieht gerade ein Funktelefon auf. Zahnräder greifen ineinander. Akkarat nimmt einen Anruf entgegen.
»Ja?« Er nickt. Spricht auf Thai.
Anderson kann nur einige wenige Worte aufschnappen, doch er sieht, wie sich Carlyles Augen weiten. »Sie haben die Radiosender eingenommen.«
»Wie bitte?« Unter Schmerzen richtet Anderson sich auf und schiebt den Arzt beiseite, der immer noch mit seiner Hand beschäftigt ist. Sofort bauen sich Wachmänner vor ihm auf, die Akkarat von ihm abschirmen. Während sie ihn zurück an die Wand drängen, ruft Anderson über ihre Schultern hinweg: »Sie schlagen los? Jetzt schon?«
Akkarat blickt vom Telefon auf, beendet in aller Seelenruhe sein Gespräch und reicht dann den Hörer an den Kommunikationsoffizier zurück. Der Aufzieher hockt sich wieder hin, um auf den nächsten Anruf zu warten. Das Surren des Schwungrades wird leiser.
»Der Anschlag auf den Somdet Chaopraya hat eine Menge Feindseligkeiten den Weißhemden gegenüber geschürt«, sagt Akkarat. »Vor dem Umweltministerium kam es zu Demonstrationen. Sogar die Megodonten-Gewerkschaft hat sich beteiligt. Das Volk war bereits durch das scharfe Vorgehen des Ministeriums verärgert. Ich habe beschlossen, daraus Kapital zu schlagen.«
»Aber wir verfügen doch gegenwärtig noch gar nicht über die nötigen Mittel«, wendet Anderson ein. »Aus dem Norden sind noch nicht alle Truppenkontingente eingetroffen. Die von mir angeforderten Spezialeinheiten werden auch nicht vor nächster Woche an der Küste landen.«
Akkarat zuckt mit den Schultern und lächelt. »Revolutionen sind ein schmutziges Geschäft. Da ist es besser, eine Gelegenheit beim Schopf zu packen, sobald sie sich bietet. Dennoch gehe ich davon aus, dass Sie positiv überrascht sein werden.« Er dreht sich wieder zu seinem kurbelbetriebenen Telefon um. Das gleichmäßige Summen des Schwungrades hallt durch den Raum, während er seinen Truppen Befehle erteilt.