Anderson betrachtet Akkarats Rücken. Dieser Mann, der noch vor kurzem in der Gegenwart des Somdet Chaopraya so unterwürfig war, hat jetzt eindeutig die Kontrolle übernommen. In steter Folge erteilt er Anordnungen. Immer wieder klingelt das Telefon und verlangt seine Aufmerksamkeit.
»Das ist doch verrückt«, murmelt Carlyle. »Spielen wir da jetzt überhaupt noch eine Rolle?«
»Schwer zu sagen.«
Akkarat wirft ihnen einen Blick zu, scheint etwas sagen zu wollen, aber legt dann doch nur den Kopf schief. »Hören Sie das?«, beginnt er dann, und seine Stimme klingt mit einem Mal ehrfürchtig.
Ein Donnern zieht über die Stadt hinweg. Durch die geöffneten Fenster der Kommandozentrale sind flackernde Lichter zu sehen, wie Blitze in einem Unwetter. Akkarat lächelt.
»Es geht los.«
39
Pai wartet bereits im Büro auf Kanya, als sie hereingestürmt kommt. »Wo sind unsere Leute?«, fragt sie nach Luft schnappend.
»Sie haben sich in den Unterkünften gesammelt.« Er zuckt mit den Achseln. »Wir kamen gerade von dem Dorf zurück, als wir hörten, dass die Dinge hier …«
»Sind sie immer noch dort?«
»Vielleicht noch ein paar von ihnen. Dem Vernehmen nach haben Akkarat und Pracha Verhandlungen aufgenommen.«
»Nein!« Sie schüttelt den Kopf. »Bring sie alle her. Sofort.« Sie rast durch das Zimmer, um weitere Ladestreifen für ihre Federpistole einzusammeln. »Sie sollen sich formieren und bewaffnen. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
Pai starrt Hiroko an. »Ist das das Aufziehmädchen?«
»Machen Sie sich ihretwegen keine Gedanken. Wissen Sie, wo sich General Pracha aufhält?«
Er zuckt mit den Achseln. »Ich habe nur mitbekommen, dass er unsere Mauern inspiziert hat und dann zu Gesprächen mit der Megodonten-Gewerkschaft aufgebrochen ist, wegen der Proteste …«
Sie schneidet eine Grimasse. »Rufen Sie unsere Männer zusammen. Wir können nicht mehr länger warten.«
»Sie sind doch verrückt …«
Eine Explosion erschüttert das Zimmer. Von draußen dringt ein Krachen herein, als Bäume umstürzen. Entgeistert rappelt Pai sich auf. Er rennt zum Fenster und blickt hinaus. Eine Alarmsirene heult los.
»Es ist das Handelsministerium «, sagt Kanya. »Sie sind also schon da.« Sie greift nach ihrer Federpistole. Hiroko bleibt bei alldem unnatürlich ruhig; mit leicht geneigtem Kopf lauscht sie wie ein Hund. Und dann dreht sie sich ein wenig herum und richtet ihre ganze Aufmerksamkeit nach vorne, erwartungsvoll. Eine weitere Reihe von Explosionen schlägt rund ums Ministerium ein. Das ganze Gebäude erzittert. Putz bröckelt von der Decke.
Kanya eilt aus dem Büro. Andere Weißhemden tun es ihr gleich — die wenigen Männer und Frauen, die zur Abendschicht gehören oder noch nicht für Patrouillen im Hafen und an den Ankerplätzen eingeteilt worden sind. Sie stürzt den Flur entlang — dicht gefolgt von Hiroko und Pai — und stürmt nach draußen.
Die Nacht duftet nach Jasminblüten, süß und schwer, doch in diesen Duft mischt sich Rauch und auch noch der scharfe Geruch von etwas anderem, etwas, das sie lange nicht mehr gerochen hat — seit Militärkonvois auf der uralten Freundschaftsbrücke den Mekong überquerten, um zu den Aufständischen in Vietnam zu gelangen.
Ein Panzer bricht durch die Außenmauer.
Er ist ein rauchspuckendes stählernes Ungeheuer, über zwei Mann hoch und in Tarnfarben angestrichen. Die Panzerkanone feuert. Die Mündung blitzt auf, und der Panzer wird auf seinen Laufketten zurückgestoßen. Der Geschützturm dreht sich hin und her und sucht mit rasselndem Getriebe nach einem neuen Ziel. Mauerwerk und Marmor regnen auf Kanya herab. Sie stürzt in Deckung.
Hinter dem Panzer drängen sich Kriegsmegodonten durch die Lücke in der Mauer. Ihre Rüssel glänzen im Dunkeln, die Reiter sind ganz in Schwarz gekleidet. Im Dämmerlicht stechen die wenigen Weißhemden, die aus dem Gebäude gehastet kommen, hervor wie blasse Geisterwesen und geben ein denkbar einfaches Ziel ab. Oben auf den Megodonten ertönt das hohe Surren von Hochleistungsfedern, und als Nächstes hört Kanya überall um sich herum das Klirren eingeschlagener Scheiben. Betonbrocken regnen herab. Ihre Wange hat etwas abbekommen. Plötzlich findet sie sich auf dem Boden wieder. Hiroko hat sie niedergeworfen und sich schützend über sie gelegt, kurz bevor weitere Scheiben in die Wand hinter ihnen einschlagen.
Wieder ertönt eine Explosion. Das Geräusch sprengt ihr beinahe den Schädel. Ihr wird bewusst, dass sie ein Wimmern von sich gibt. Alles ist mit einem Mal sehr weit weg. Sie zittert vor Angst.
Der Panzer rumpelt in die Mitte des Innenhofes. Dreht sich umher. Immer mehr Megodonten stürmen auf das Gelände; zwischen ihren Beinen wimmelt es von Sturmtruppen, die ebenfalls durch das Loch in der Mauer hereinströmen. Doch sie sind zu weit entfernt, so dass Kanya nicht ausmachen kann, welcher General da die Seite gewechselt hat und nun gegen Pracha ins Feld zieht. Aus den oberen Stockwerken des Ministeriums werden vereinzelt Schüsse abgefeuert. Schreie hallen über den Hof, Weißhemden sterben. Kanya zieht ihre Federpistole und zielt. Neben ihr stirbt ein Archivangestellter, den eine Scheibe getroffen hat. Kanya hält die Waffe fest umklammert und gibt einen Schuss ab. Sie kann nicht erkennen, ob sie ihr Ziel getroffen hat oder nicht. Sie feuert erneut, und der Mann geht zu Boden. Die auf sie zustürmenden Soldaten gleichen einem Tsunami.
Jaidee erscheint an ihrer Schulter. »Was ist mit Ihren Männern? «, fragt er sie. »Werden Sie ihr Leben so billig verkaufen und die Jungs, die auf sie angewiesen sind, im Stich lassen?«
Kanya drückt ab. Sie kann kaum noch etwas erkennen. Sie weint. Die Soldaten rücken weiter vor. Laufen geduckt unterhalb der Feuerlinie auf das Gebäude zu.
»Hauptmann Kanya, ich bitte Sie«, sagt Hiroko. »Wir müssen fliehen.«
»Los!«, drängt auch Jaidee. »Es ist zu spät, um zu kämpfen.«
Kanya nimmt den Finger vom Abzug. Es hagelt Scheiben. Sie rollt sich weg und kämpft sich in Richtung Haupteingang vor, versucht sich mit einem Sprung in die relative Sicherheit des Gebäudes zu retten. Dann rappelt sie sich auf und rennt zum Hinterausgang am anderen Ende des Ministeriums. Weitere Granaten schlagen ein. Das Gebäude erbebt. Sie fragt sich, ob es einstürzen wird, noch bevor sie den Ausgang erreicht hat.
Während sie hinter Hiroko und Pai über blutige Körper springt, kommen Erinnerungen an ihre Kindheit in ihr hoch. Erinnerungen an Zerstörung und Gräueltaten. An mit Kohle angetriebene Panzer, die durch Dörfer rattern und sich lärmend in langen Kolonnen über die wenigen gepflasterten Straßen der Provinzen schleppen, um sich schließlich mühsam einen Weg durch die Reisfelder zu bahnen. Panzerfahrzeuge, die in Richtung Mekong rasen, um das Königreich vor dem vollkommen unerwarteten, ersten feindlichen Vorstoß durch die Vietnamesen zu beschützen. Auf ihrem Weg zur Grenze ziehen sie schwarze Rauchschwaden hinter sich her, die schweren Ketten reißen die Erde auf. Und jetzt sind diese Ungeheuer hier.
Sie hetzt durch den Hinterausgang des Ministeriums und gerät direkt in einen Feuersturm hinein. Bäume stehen in Flammen. Ein Napalmangriff wahrscheinlich. Rauch trübt ihr die Sicht. Irgendwo fernab zerschmettert ein weiterer Panzer ein Tor und rückt schneller vor, als irgendein Megodont es je könnte. Ihr Gehirn kann bei dieser Geschwindigkeit kaum noch mithalten. Diese Maschinen kommen ihr wie Tiger vor, die über die Steppe stürmen. Ihre nur mit Federpistolen ausgerüsteten Männer können gegen die stählerne Ummantelung der Panzerfahrzeuge nichts ausrichten; für einen Krieg sind sie nicht geeignet. Überall um sie herum zischen silbrige Scheiben durch die Luft, und Blitze zucken herab. Weißhemden versuchen sich in Sicherheit zu bringen, doch es gibt nirgendwo Deckung. Das Weiß trägt rote Blüten. Menschen werden von den Explosionen zerfetzt. Immer mehr Panzer rollen herbei.