43
Eine Panzergranate schlägt ein. Erde und Holzsplitter regnen auf Kanyas Kopf herab. Sie haben die Gebäude des Ministeriums aufgegeben — Kanya hat es einen Rückzug genannt, obwohl es in Wahrheit nichts weiter als eine wilde Flucht war — und rennen jetzt, so schnell sie können, vor den immer weiter vorrückenden Panzern und Megodonten davon.
Wahrscheinlich haben sie überhaupt nur überlebt, weil es das vorrangige Ziel der Armee zu sein scheint, den Hauptcampus des Ministeriums zu sichern, weswegen die meisten der Streitkräfte sich dort sammeln. Trotzdem ist Kanya mit ihren Männern auf drei Kommandotrupps gestoßen, die über die südliche Mauer auf das Gelände vordrangen und ihren Zug um die Hälfte dezimiert haben. Und jetzt, gerade als sie dabei sind, durch einen Nebenausgang zu entkommen, rollt ihnen ein weiterer Panzer entgegen. Er hat die Mauer durchbrochen und ihnen den Fluchtweg versperrt.
Sie hat ihren Männern befohlen, in dem Waldstück am Phra Seub-Tempel Schutz zu suchen. Dort bietet sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Der sorgfältig gepflegte Park ist von Kriegsmegodonten zertrampelt worden. Die Hauptsäulen sind von einer Brandbombe, die kreischend und brüllend wie ein wütender Dämon durch das trockene Teak gefegt ist, niedergemäht worden, so dass sich die Soldaten zwischen Aschehaufen, Stümpfen und schwelenden Bränden ducken müssen.
Eine weitere Panzergranate geht auf ihre Stellung am Hang nieder. Kommandoeinheiten sammeln sich um den Panzer, teilen sich in kleinere Gruppen auf und stürmen über das Gelände. Es sieht so aus, als hätten sie es auf die biologischen Labore abgesehen. Kanya fragt sich, ob Ratana gerade dort arbeitet — ob sie überhaupt etwas mitbekommen hat von dem Krieg, der hier oben stattfindet. Neben ihr zerbirst ein Baum, als eine weitere Granate einschlägt.
»Sie wissen, dass wir hier oben sind, auch wenn sie uns nicht sehen können«, sagt Pai. Wie um seine Worte zu unterstreichen, surrt heulend ein Hagel von Scheiben über ihre Köpfe hinweg, die sich in die umliegenden Baumstümpfe bohren — helles Silber, das aus dem schwarzen Holz herausragt. Kanya bedeutet ihren Männern, dass sie sich weiter zurückziehen sollen. Die übrigen Weißhemden, die ihre Uniformen sorgsam mit schwarzem Ruß und Asche beschmiert haben, machen sich davon, tiefer in den flackernden Wald hinein.
Weiter unten am Hang schlägt erneut eine Granate ein. Brennende Teakholzsplitter sausen durch die Luft.
»Sie kommen uns zu nahe.« Kanya steht auf und rennt los, und Pai folgt ihr auf dem Fuße. Hiroko flitzt vorbei und geht hinter einem schwarzen Holzblock in Deckung. Dort wartet sie, bis die beiden sie eingeholt haben.
» Können Sie sich vorstellen, so jemanden als Gegner zu haben?«, keucht Pai.
Kanya schüttelt den Kopf. Das Aufziehmädchen hat ihnen bereits zweimal das Leben gerettet. Einmal erkannte sie die schattenhaften Bewegungen einer Kommandoeinheit, die sich ihnen näherte, und beim zweiten Mal riss sie Kanya zu Boden, so dass der Scheibenregen, der sie sonst erwischt hätte, nur die Luft über ihnen zerteilte. Die Augen des Aufziehwesens sehen auch das, was Kanya entgeht, und sie ist mörderisch schnell. Doch die Röte in ihrem Gesicht und auch die trockene, glühend heiße Haut verraten, dass sie keineswegs für diese tropische Kriegssituation gebaut ist. Obwohl sie die ganze Zeit Wasser über sie gießen, wird sie immer schwächer.
Als Kanya an ihre Seite eilt, sieht Hiroko sie aus fiebrig glänzenden Augen an. »Ich muss bald etwas trinken. Eis.«
»Wir haben keines.«
»Dann der Fluss. Irgendetwas. Ich muss zu Yashimotosama zurück.«
»Auf dem Fluss wird überall gekämpft.« Kanya hat gehört, dass General Pracha am Damm Stellung bezogen hat und versucht, von dort aus die Marine an der Landung zu hindern. Er kämpft gegen seinen alten Widersacher, Admiral Noi.
Hiroko streckt eine glühende Hand aus. »Ich überstehe das nicht.«
Kanya schaut sich um, sucht nach einer Lösung. Überall Leichen. Die von Munition und Sprengstoff zerfetzten Männer und Frauen bieten einen schlimmeren Anblick als nach einer Seuche. Ein unvorstellbares Gemetzel. Arme, Beine, ein abgerissener Fuß, der auf einen Ast geschleudert wurde. Aufgetürmte und brennende Menschenberge. Zischendes Napalm. Das Rasseln der Panzer, die über das Gelände rollen, der beißende Geruch verbrannter Kohle. »Ich brauche das Radio«, sagt sie.
»Pichai hatte es zuletzt.«
Aber Pichai ist tot, und keiner weiß genau, wohin das Radio verschwunden ist.
Wir sind für so etwas überhaupt nicht ausgebildet. Rostwelke und Influenza können wir bekämpfen, aber doch keine Megodonten und Panzer.
Als sie das Radio endlich wiederfindet, muss sie es einer toten Hand entwinden. Sie kurbelt am Hörer. Probiert die Codes aus, die das Ministerium bei der Seuchenbekämpfung einsetzt und die nicht für einen solchen Krieg gedacht sind. Nichts. Nach einer Weile entscheidet sie sich, unverschlüsselt zu senden. »Hier ist Hauptmann Kanya. Ist da irgendwo jemand? Over?«
Eine lange Pause. Ein Knacken, dann rauscht es in der Leitung. Sie wiederholt ihre Worte. Noch einmal. Nichts.
Doch dann: »Hauptmann? Hier spricht Leutnant Apichart. «
Sie erkennt die Stimme wieder. »Ja? Wo ist General Pracha?«
Erneutes Schweigen. »Das wissen wir nicht.«
»Sind Sie nicht bei ihm?«
Es bleibt eine Weile still. »Wir vermuten, dass er tot ist.« Er hustet. »Sie haben Giftgas eingesetzt.«
»Wer ist unser ranghöchster Offizier?«
Wieder eine lange Pause. »Ich denke, das sind Sie, Frau Hauptmann.«
Kanya ist fassungslos. Ihr fehlen die Worte. »Das kann nicht sein. Was ist mit dem Fünften?«
»Wir haben nichts von ihm gehört.«
»General Som?«
»Er wurde bei sich zu Hause gefunden, ermordet. Genau wie Karmatha und Phailin.«
»Das ist nicht möglich.«
»Das sind Gerüchte. Aber sie sind seitdem nicht mehr gesehen worden, und General Pracha hat es geglaubt, als er es erfuhr.«
»Und sonst gibt es keinen anderen Hauptmann?«
»Bhirombhakdi war an den Ankerplätzen, doch die stehen in Flammen, so wie es von hier aussieht.«
»Wo befinden Sie sich?«
»In einem Expansionshochhaus nahe der Phraram Road.«
» Wie viele Männer sind bei Ihnen?«
»Vielleicht um die dreißig.«
Erschüttert mustert sie ihre eigene Truppe. Verwundete Männer und Frauen. Hiroko lehnt an einen abgestorbenen Bananenbaum, ihr Gesicht so rot wie ein chinesischer Lampion. Sie hat die Augen geschlossen. Vielleicht ist sie bereits tot. Einen kurzen Moment lang überlegt sie, ob ihr der Tod dieses Wesens etwas ausmachen würde … Ihre Männer haben die Augen alle auf sie gerichtet. Kanya betrachtet ihre armseligen Munitionsvorräte. Die Verletzungen. Wie wenige sie nur noch sind!
Das Radio gibt wieder ein knackendes Geräusch von sich. »Was sollen wir tun, Hauptmann?«, fragt Leutnant Apichart. »Mit unseren Pistolen können wir nichts gegen die Panzer ausrichten. Es gibt keine Möglichkeit für uns …« Die Leitung wird von Rauschen erfüllt.
Vom Fluss dringt das Poltern einer gewaltigen Explosion zu ihnen herauf.
Der Gefreite Sarawut klettert von einem Baum herab. »Sie haben aufgehört, die Hafenanlagen zu beschießen.«
»Wir sind allein«, murmelt Pai.
44
Die plötzliche Stille weckt sie. Emiko hat die Nacht über wie betäubt dagelegen, wobei sie immer wieder vom Krachen der Einschläge oder dem hohen Heulen entfesselter Hochleistungsfedern aus dem Schlaf gerissen wurde. Immer noch rasseln Panzer die Straßen entlang und verbrennen Kohle, doch der Hauptlärm kommt inzwischen von weit weg — Kämpfe, die in anderen Stadtteilen stattfinden. Leichen liegen verlassen auf dem Gehweg — Opfer der Tumulte, die im sich immer weiter ausbreitenden Kampfgeschehen einfach vergessen wurden.