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Eine merkwürdige Ruhe hat sich über die Stadt gelegt. Vereinzelt glimmt Kerzenschein hinter den Fenstern, wo in der mitternächtlichen verwüsteten Stadt noch Menschen Wache halten. Ansonsten ist alles in Dunkelheit getaucht. Weder auf den Straßen noch in den Gebäuden ist irgendein Gaslicht zu erkennen. Es herrscht vollkommene Dunkelheit. Anscheinend hat endlich jemand die Hauptleitungen abgesperrt, oder vielleicht sind auch die Methangasvorräte der Stadt versiegt.

Emiko windet sich aus dem Müll hervor und rümpft angeekelt die Nase angesichts der Melonenrinden und Bananenschalen. Sie sieht dunkle Rauchsäulen, die sich vor dem flammend orangefarbenen Himmel abzeichnen, sonst nichts. Die Straßen sind menschenleer. Für das, was sie vorhat, gibt es keinen besseren Zeitpunkt.

Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Wohnhaus. Andersons Apartment wartet nur sechs Stockwerke entfernt auf sie. Wenn sie doch nur dorthin gelangen könnte! Zunächst hatte sie vorgehabt, einfach durch das Foyer zu stürmen und sich irgendwie weiter nach oben durchzuschlagen. Doch die Eingangstüren sind fest verschlossen, und im Gebäudeinneren patrouillieren Wachen. Inzwischen ist ihr Gesicht auch schon zu bekannt, als dass sie das Risiko eingehen könnte, durch den Haupteingang zu gehen. Aber sie weiß bereits eine andere Lösung.

Ihr ist heiß. Entsetzlich heiß. Die grüne Kokosnuss, die sie zu Beginn der Nacht gefunden und aufgeschlagen hat, ist nur mehr eine wehmütige Erinnerung. Sie zählt noch einmal die über ihr aufragenden Balkone ab, einen nach dem anderen. Dort oben gibt es Wasser. Einen kühlenden Windhauch. Wenn sie es dorthin schaffen könnte, hätte sie übergangsweise ein Versteck zum Überleben.

In weiter Ferne ertönt ein Grollen, dann sind kleine Explosionen wie von Feuerwerkskörpern zu hören. Emiko horcht auf. Besser, sie wartet nicht länger. Sie klettert auf den untersten Balkon. Er ist von Eisengittern umschlossen, genau wie der darüberliegende. Sie zieht sich an der Vorderseite des ersten und auch des zweiten hoch. Die Eisenstangen dienen ihr dabei als Griffe.

Endlich steht sie auf dem dritten Balkon, der nicht vergittert ist, und die Anstrengung lässt sie bereits jetzt nach Luft schnappen. Ihr ist heiß, und allmählich wird ihr schwindelig. Unter ihr locken die Pflastersteine. Sie blickt zum Rand des nächsten Balkons hinauf. Dann sammelt sie sich kurz, springt … und wird damit belohnt, dass sie sofort Halt findet. Sie zieht sich hoch.

Auf dem Geländer des vierten Balkons hockend, blickt sie zum fünften hinauf. Die Strapaze lässt die Hitze in ihrem Innern ansteigen. Sie holt tief Luft und springt erneut. Ihre Finger bekommen etwas zu fassen, und sie baumelt in der Luft. Als sie hinunterblickt, bereut sie es sofort. Die Straße liegt weit unter ihr. Keuchend zieht sie sich Stück für Stück nach oben.

Die Wohnung liegt im Dunkel. Niemand bewegt sich. Emiko prüft das Eisengitter, mit dem die Verglasung abgesichert ist, und hofft auf einen glücklichen Zufall, doch sie ist verschlossen. Sie würde alles für etwas Wasser geben, um es zu trinken und sich über den Kopf und ihren Körper laufen zu lassen. Sie nimmt das Gitter genauer in Augenschein, aber da gibt es kein Durchkommen.

Ein Sprung noch.

Sie geht zum Rand der Veranda zurück. Ihre Hände scheine die einzigen Körperteile zu sein, die ganz normal schwitzen. Es fühlt sich an, als wären sie mit einem Ölfilm bedeckt. Immer wieder wischt sie ihre Handflächen trocken. Wenn sie so weitermacht, wird sie vor Hitze noch ohnmächtig. Sie klettert auf den äußeren Rand des Balkons und sucht ihr Gleichgewicht. Ihr ist schwindelig. Sie kauert sich zusammen und stützt sich besser ab.

Dann springt sie.

Ihre Finger kratzen am Rand des Balkons, rutschen dann ab. Sie kracht wieder hinunter, genau auf das Geländer. Es fühlt sich an, als würde ihr Brustkorb bersten. Sie landet rückwärts in den Jasmintöpfen, die auf dem Balkon stehen. Ein furchtbarer Schmerz fährt ihr durch den Ellenbogen.

Wimmernd liegt sie zwischen den Tonscherben, vom Duft des Jasmins eingehüllt. Blut glänzt schwarz auf ihren Händen.

Sie zittert am ganzen Körper und kann gar nicht mehr aufhören zu schluchzen. Das ganze Klettern und Springen hat sie dermaßen aufgeheizt, dass sie das Gefühl hat, bei lebendigem Leibe zu verbrennen.

Mit Müh und Not rappelt sie sich auf, hält dabei den verletzten Arm an sich gedrückt. Obwohl sie jede Sekunde damit rechnet, dass Menschen auf sie losstürzen, bleibt die Wohnung vor ihr dunkel.

Emiko erhebt sich schwankend und lehnt sich gegen das Balkongeländer. Sie sieht zu ihrem Ziel auf.

Dummes Mädchen. Wieso gibst du dir überhaupt so viel Mühe zu überleben? Warum springst du nicht einfach in den Tod? Das wäre so viel einfacher.

Sie späht in die dunkle Gasse unter sich. Darauf weiß sie keine Antwort. Der Überlebenstrieb ist tief in ihr verankert, so tief wie die zwanghafte Unterwürfigkeit. Sie hievt sich noch ein Mal auf das Geländer und sucht dort, so gut es eben mit einem schmerzenden Arm geht, ihr Gleichgewicht zu finden. Schließlich blickt sie nach oben und richtet ein Stoßgebet an Mizuko Jizo, den Aufziehbodhisattva, er möge Mitleid mit ihr haben.

Sie springt und streckt eine Hand aus, um sich zu retten.

Ihre Finger bekommen etwas zu fassen … dann rutschen sie ab.

Emiko reißt die verletzte Hand nach oben und packt zu. Die Ellenbänder lösen sich vom Knochen. Als die Knochen auseinandergedrückt werden und dann ganz brechen, schreit sie laut auf. Schluchzend schnappt sie nach Luft und tastet mit der heilen Hand nach dem Geländer. Bekommt es zu fassen. Sie lässt den gebrochenen Arm sinken. Er baumelt schlaff an ihrer Seite.

Emiko hängt an einer Hand hoch oben über der Straße. Ihr Arm steht in Flammen. Sie wimmert leise vor sich hin und bereitet sich innerlich auf die nächste Verletzung vor, die sie sich gleich zufügen wird. Mit einem abgehackten Schluchzer greift sie noch einmal mit dem schlimmen Arm nach. Die Hand schließt sich um das Geländer.

Bitte. Bitte. Nur noch ein Stückchen.

Sie verlagert das Gewicht. Glühende Schmerzen schießen ihren Arm hinauf. Ihr Atem kommt nur noch stoßweise. Sie hievt ein Bein nach oben, tastet mit dem Fuß umher, um etwas zu finden, an dem sie mit den Zehen Halt finden kann. Dann endlich kann sie sich hinter einem Eisenstab festhaken. Mit zusammengebissenen Zähnen zieht sie sich hoch. Sie schluchzt, aber sie lässt nicht los.

Nur noch ein kleines Stück.

Der Lauf einer Federpistole bohrt sich ihr in die Stirn.

Emiko öffnet die Augen. Ein junges Mädchen hält mit zitternden Händen die Waffe umklammert. Sie sieht Emiko zu Tode erschrocken an. »Sie hatten Recht«, flüstert sie.

Hinter ihr steht ein alter Chinese, das Gesicht im Dunkel verborgen. Sie spähen über das Geländer in den Abgrund zu Emiko, die sich schaukelnd festkrallt. Ihre Hände beginnen abzurutschen. Der Schmerz ist kaum noch zu ertragen.

»Bitte«, flüstert Emiko. »Helfen Sie mir.«

45

Die Gaslichter in Akkarats Kommandozentrale beginnen zu flackern, dann gehen sie ganz aus. In der plötzlichen Dunkelheit richtet sich Anderson überrascht auf. Eine Zeit lang hatte es nur noch vereinzelt Kampfhandlungen gegeben; trotzdem bietet sich in der ganzen Stadt das gleiche Bild: Krung Theps Gaslampen flackern ein letztes Mal und erlöschen dann. Entlang der Verkehrsstraßen verschwinden sämtliche grünen Lichtpunkte, einer nach dem anderen. In den wenigen Konfliktzonen lodern immer noch die gelben und orangen WeatherAll-Feuer, aber jegliches Grün ist aus der Stadt verschwunden. Ein schwarzes Laken scheint über sie gebreitet, fast so vollkommen wie der Ozean hinter dem Damm.

»Was geht da vor sich?«, fragt Anderson.

Das trübe Schimmern der Computermonitore ist das einzige Licht im Raum. Akkarat kommt vom Balkon zurück in das Zimmer. Die Einsatzzentrale surrt vor Geschäftigkeit. Handbetriebene Notfall-LED-Laternen gehen an und verbreiten Helligkeit, so dass er das Lächeln auf Akkarats Gesicht erkennen kann. »Wir haben das Methanwerk eingenommen«, sagt er. »Jetzt gehört das Land uns.«