»Sind Sie da sicher?«
»Sowohl die Ankerplätze als auch die Hafenanlagen sind in unserer Gewalt. Die Weißhemden ergeben sich. Wir haben eine Nachricht von ihrem leitenden Offizier erhalten. Sie werden die Waffen niederlegen und bedingungslos kapitulieren. Die Neuigkeit wird bereits über ihre verschlüsselten Sendefrequenzen verbreitet. Einige von ihnen werden wahrscheinlich trotzdem weiterkämpfen, aber uns gehört jetzt die Stadt.«
Anderson reibt sich die gebrochenen Rippen. »Heißt das, wir können gehen?«
Akkarat nickt. »Selbstverständlich. Ich werde gleich einige Männer abbeordern, die Sie nach Hause eskortieren. Es wird aber noch ein wenig dauern, bis wieder Ruhe auf den Straßen eingekehrt ist.« Er lächelt erneut. »Ich denke, Sie werden mit dem neuen Management unseres Königreiches mehr als zufrieden sein.«
Einige Stunden später werden sie in einen Fahrstuhl geleitet.
Sie steigen im Erdgeschoss aus. Akkarats Privatlimousine erwartet sie bereits.
Allmählich wird der Himmel heller.
Als sie gerade einsteigen wollen, hält Carlyle kurz inne und starrt die Straße hinunter — dorthin, wo der gelbe Rand der Morgendämmerung sich allmählich ausbreitet. »Mit diesem Anblick habe ich wirklich nicht mehr gerechnet.«
»Ich dachte, um uns wäre es geschehen.«
»Dafür waren Sie aber recht gelassen.«
Anderson zuckt vorsichtig mit den Schultern. »Finnland war noch schlimmer.« Doch schon beim Einsteigen bekommt er einen erneuten Hustenanfall, der sich eine halbe Minute lang hinzieht. Carlyle sieht zu, wie er sich das Blut von den Lippen wischt.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
Anderson nickt und zieht behutsam die Tür hinter sich zu. »Ich vermute, dass ich innere Verletzungen davongetragen habe. Akkarat hat meine Rippen mit einer Pistole bearbeitet. «
Carlyle sieht ihn prüfend an. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie sich nichts eingefangen haben?«
»Machen Sie Scherze?« Anderson lacht, doch davon tun ihm nur wieder die Rippen weh. »Ich arbeite für AgriGen. Ich bin gegen Krankheiten geimpft, die noch nicht einmal erfunden wurden.«
Als das Auto sich vom Bordstein löst und Fahrt aufnimmt, gesellt sich eine Eskorte von Spannfederrollern zu ihnen und schwärmt um die kohlenbetriebene Limousine herum aus. Anderson macht es sich im Sitz gemütlich und betrachtet die am Fenster vorbeiziehende Stadt.
Carlyle tippt auf die Lederarmlehne. »So einen werde ich mir auch zulegen. Wenn der Handel erst einmal in Gang gekommen ist, werde ich jede Menge Geld zu verprassen haben.«
Anderson nickt zerstreut. »Wir werden auf der Stelle mit der Verschiffung von Kalorienlieferungen beginnen müssen. Hungerhilfe. Als Notlösung würde ich gerne Ihre Flugschiffe in Dienst nehmen, und zwar sofort! Wir werden U-Tex aus Indien liefern. Damit Akkarat etwas hat, womit er angeben kann. Die Vorteile des freien Handels und so weiter. Das sorgt für gute Presse in den Flüsterblättern. Damit alles in trockenen Tüchern ist.«
»Können Sie nicht einfach den Moment genießen?« Carlyle lacht. »Es kommt nicht besonders häufig vor, dass man einer schwarzen Kapuze entkommt, Anderson. Wir werden jetzt erst einmal etwas Whisky auftreiben und dazu ein Dach mit Aussicht, und dann schauen wir uns den verdammten Sonnenaufgang über dem Land an, das wir gerade gekauft haben. Das ist es, was wir als Nächstes machen werden. Der ganze andere Mist kann bis morgen warten.«
Als die Limousine auf die Phraram Road einbiegt, formiert sich die Eskorte vor dem Wagen, und sie sausen durch die schnell heller werdende Stadt. Dann verlassen sie die Route und machen einen Bogen um ein umgestürztes Expansions-Hochhaus, das den Kämpfen zum Opfer gefallen ist. Einige wenige Menschen plündern den Trümmerhaufen, doch keiner von ihnen ist bewaffnet.
»Es ist vorbei«, sagt Anderson leise. »Einfach so.« Er fühlt sich erschöpft. Am Straßenrand, halb auf dem Bürgersteig, liegen zwei tote Weißhemden. Neben ihnen hockt ein Geier, der sich Stück für Stück an sie heranpirscht. Anderson befühlt noch einmal behutsam seine Rippen. Mit einem Mal ist er froh, noch am Leben zu sein.
»Wissen Sie auch, wo wir diesen Whisky bekommen?«
46
Der alte Chinese und das junge Mädchen weichen vor ihr zurück und beobachten wachsam, wie sie das Wasser hinunterstürzt. Es hat Emiko überrascht, dass der alte Mann dem Mädchen erlaubte, ihr über das Balkongeländer zu helfen. Doch jetzt, da sie in Sicherheit ist, hält er die Spannfederpistole auf sie gerichtet, und Emiko ist klar, dass er nicht aus Barmherzigkeit so entschieden hat.
»Hast du sie wirklich umgebracht?«, fragt er.
Emiko hebt mit äußerster Vorsicht das Glas und trinkt erneut. Wenn sie nur nicht solche Schmerzen hätte, dann könnte sie es fast genießen, dass diese beiden solche Angst vor ihr haben. Dank des Wassers fühlt sie sich selbst mit einem geschwollenen, unbrauchbaren Arm im Schoß bereits wesentlich besser. Sie stellt das Glas auf dem Boden ab und umfasst den verwundeten Ellbogen. Ihr Atem geht flach.
»Warst du das?«, fragt er wieder.
Sie zuckt unmerklich mit den Achseln. »Ich war schnell. Sie waren langsam.«
Sie sprechen Mandarin miteinander, eine Sprache, die sie seit ihrer Zeit bei Gendo-sama nicht mehr gebraucht hat. Englisch, Thai, Französisch, Mandarin-Chinesisch, Buchhaltung, diplomatische Etikette, Bewirtung und Gastfreundlichkeit … So viele Fähigkeiten, die sie nicht mehr anwenden kann. Es hat zwar einige Minuten gedauert, bis die Erinnerung an die Sprache zurückkehrt, doch dann war alles wieder da — wie bei einem verkümmerten Körperteil, der lange nicht benutzt worden war und sich plötzlich wie durch ein Wunder als kräftig erweist. Sie fragt sich, ob ihr gebrochener Arm vielleicht auch so problemlos heilen wird; ob ihr Körper vielleicht noch weitere Überraschungen für sie bereithält.
»Sie sind der Yellow-Card-Assistent aus der Fabrik«, stellt sie fest. »Hock Seng, richtig? Anderson-sama hat mir erzählt, dass Sie geflüchtet sind, als die Weißhemden kamen.«
Der alte Mann zuckt mit den Achseln. »Ich bin wieder zurückgekommen. «
»Warum?«
Er lächelt ein freudloses Lächeln. »Wir klammern uns an jedes Stückchen Treibgut, das uns bleibt.«
Draußen grollt eine Explosion. Sie alle drehen sich nach dem Geräusch um.
»Ich glaube, es hört auf«, murmelt das Mädchen. »Das war die Erste seit über einer Stunde.«
Emiko vermutet, dass sie die beiden selbst mit gebrochenem Arm problemlos töten könnte, jetzt, da sie abgelenkt sind. Aber sie ist so müde. Und sie ist die ganze Gewalt leid. Sie hat genug von dem Blutvergießen. Jenseits des Balkons liegt die rauchende Stadt unter einem sich aufhellenden Himmel. Eine ganze Stadt wurde in Stücke gerissen, nur weil … Weswegen eigentlich? Wegen eines Aufziehmädchens, das sich nicht mit seiner Rolle abfinden wollte.
Beschämt schließt Emiko die Augen. Fast kann sie Mizumi-sensei vor sich sehen, wie diese missbilligend die Stirn krauszieht. Sie ist überrascht, dass ihre Lehrerin immer noch solche Macht über sie besitzt. Vielleicht wird sie sich niemals von ihr lösen können. Mizumi ist ein Teil von ihr, genau wie die elendige Porenstruktur. »Wollen Sie die Belohnung kassieren, die auf mich ausgesetzt ist?«, fragt sie. »Sie möchten eine Mörderin fangen und den Profit dafür einstreichen?«
»Die Thai wollen dich um jeden Preis.«
Das Türschloss klappert. Sie alle blicken auf, als Anderson-sama und noch ein anderer Gaijin durch die Wohnungstür stolpern. Obwohl die Gesichter der beiden Ausländer von blauen Flecken bedeckt sind, lächeln sie und sind bester Laune. Beide halten unvermittelt inne. Anderson-samas Blick schweift zwischen ihr und dem alten Mann hin und her; dann bleibt er an der Pistole hängen, die jetzt auf ihn gerichtet ist.