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»Zu den Ankerplätzen«, sagt Hock Seng. »Und zwar schnell. Mir bleibt nicht viel Zeit.«

Der Rikschafahrer nickt und legt an Tempo zu.

Mai.

Hock Seng schilt sich einen Narren. Warum kann er sich nie auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist? Immer lässt er sich ablenken. Jedes Mal versäumt er, das zu tun, was er tun muss, um in Sicherheit zu gelangen und zu überleben.

Er beugt sich vor, wütend über sich selbst, wütend auf Mai. »Nein. Warten Sie. Ich muss noch woandershin. Fahren Sie zuerst zur Krung-Thon-Brücke und dann zu den Ankerplätzen. «

»Aber das liegt in der entgegengesetzten Richtung!«

Hock Seng verzieht das Gesicht. »Denken Sie, ich wüsste das nicht?«

Der Rikschafahrer nickt und bremst ab. Er wendet und fährt den Weg zurück, den sie gekommen sind. Um schneller voranzukommen, richtet er sich auf den Pedalen auf. Die Stadt gleitet vorüber, bunt und mit den Wiederaufbauarbeiten beschäftigt. Eine Stadt, die nichts von ihrem bevorstehenden Untergang ahnt. Das Fahrrad schlängelt sich durch den Sonnenschein, schaltet reibungslos durch alle Gänge, schneller und schneller hin zu dem Mädchen.

Mit sehr viel Glück wird die Zeit ausreichen. Hock Seng betet für ein bisschen Glück. Betet, es möge genügend Zeit bleiben, um Mai abzuholen und es trotzdem noch in das Luftschiff zu schaffen. Wenn er schlau wäre, würde er einfach fliehen.

Stattdessen betet er um die Gunst der Götter.

Epilog

Nachdem die Schleusenkammern zerstört und die Pumpen sabotiert sind, dauert es sechs volle Tage, bis die Stadt der Engel untergegangen ist. Emiko sieht von der Veranda des schönsten Hochhauses in ganz Bangkok aus zu, wie das Wasser heranflutet. Anderson-sama ist nur noch eine leere Hülle. Emiko hat Wasser aus einem ausgewrungenen Tuch in seinen Mund tropfen lassen, und er hat wie ein Baby daran gesaugt, bevor er schließlich sein Leben aushauchte. Seine geflüsterten Entschuldigungen galten Geistern, die nur er sehen konnte.

Als sie die ungeheure Detonation am Stadtrand hörte, wusste sie erst nicht, was vor sich ging. Doch als immer mehr Explosionen folgten und sich zwölf Rauchsäulen den Damm entlang wie Schlangenwesen in den Himmel wanden, da begriff sie, dass die gigantischen Hochwasserpumpen von König Rama XII. zerstört worden waren und die Stadt dem Untergang geweiht war.

Emiko beobachtete drei Tage lang, wie um den Erhalt der Stadt gekämpft wurde, doch dann setzte der Monsun ein, und auch die letzten Bemühungen, den Ozean zurückzuhalten, wurden aufgegeben. Sintflutartiger Regen stürzte hernieder und fegte Staub und Trümmer hinweg, die wieder in die Höhe gewirbelt wurden. Die Menschen strömten mit ihren Habseligkeiten auf dem Kopf aus ihren Behausungen. Nach und nach füllte die Stadt sich mit Wasser und verwandelte sich in einen gewaltigen See, der gegen die Fenster der zweiten Stockwerke plätscherte.

Am sechsten Tag erklärt die Kindskönigin die heilige Stadt für verloren. Es gibt jetzt keinen Somdet Chaopraya mehr. Nur noch die Königin, und das Volk schart sich um sie.

Die Weißhemden, noch vor zwei Tagen geächtet und entehrt, sind einfach überall und führen die Menschen gen Norden. Sie haben einen neuen Tiger, eine seltsame Frau, die niemals lächelt und von der die Menschen sagen, sie sei von Geistern besessen. Sie treibt die Weißhemden dazu an, so viele Menschen wie möglich lebend aus Krung Thep herauszubekommen. Emiko war gezwungen, sich zu verstecken, als ein junger Freiwilliger in den Fluren ihres Gebäudes umherlief und jedem, der Essen oder sauberes Wasser benötigte, seine Hilfe anbot. Auch wenn die Stadt in den Wassermassen untergeht, so haben diese doch wenigstens das Umweltministerium reingewaschen.

Mit der Zeit leert sich die Stadt. Das Plätschern des Meeres und die Schreie der Cheshire ersetzen die Rufe der Obstverkäufer und das hohe Läuten der Fahrradklingeln. Manchmal hat Emiko den Eindruck, die Letzte zu sein, die noch lebt. Als sie das Radio aufzieht, hört sie, man habe die Hauptstadt in die Nähe von Ayutthaya verlegt, weiter nördlich und wieder oberhalb des Meeresspiegels. Sie hört auch, dass Akkarat sich den Kopf rasiert hat und jetzt als Mönch dafür Buße tut, dass er die Stadt nicht vor den Fluten retten konnte. Doch das alles ist weit weg.

Die Regenzeit macht das Leben für Emiko erträglicher. Eine überflutete Stadt bedeutet, dass jederzeit Wasser verfügbar ist, wenn auch nur in Form einer abgestandenen, stinkenden Wanne, in der die Abfälle von Millionen Menschen herumtreiben. Emiko macht ein kleines Segelschiff ausfindig, mit dem sie durch die wilde Stadtlandschaft fährt. Es regnet in einem fort, und sie lässt das Wasser an sich herabrinnen — es wäscht alles fort, was geschehen ist.

Sie lebt von Abfällen und von der Jagd. Sie isst Cheshire und fängt mit bloßen Händen Fische. Emiko ist äußerst schnell. Wann immer ihr danach ist, fährt sie mit den Fingern auf einen Karpfen herab und spießt ihn auf. Sie hat genügend zu essen und schläft unbehelligt. All das Wasser um sie herum lässt die Angst vor der Hitze in ihrem Innern versiegen. Auch wenn das nicht die Zuflucht der Neuen Menschen ist, von der sie geträumt hat, so hat sie doch eine Nische für sich gefunden.

Um die Wohnung zu verschönern, überquert sie die ehemalige Mündung des Chao Praya bis zur Mishimoto-Fabrik, wo sie einmal gearbeitet hat. Alles liegt in Trümmern, doch Emiko findet ein paar Erinnerungsstücke und nimmt sie an sich. Zerrissene Kalligraphien, Raku-Chawan-Schalen.

Ein paar Mal ist sie anderen Menschen begegnet. Die meisten von ihnen sind so sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, dass sie diesem Tick-Tack-Wesen, auf das sie nur aus den Augenwinkel einen Blick erhaschen, keinerlei Beachtung schenken; wieder andere wollten sich die vermeintliche Schwäche eines Mädchens zunutze machen. Emiko wird schnell mit ihnen fertig und lässt dabei so viel Gnade walten wie möglich.

Die Tage verstreichen. Sie hat sich in ihrer Welt aus Wasser und Beutezügen bequem eingerichtet. So bequem, dass es sie vollkommen unvorbereitet trifft, als der Gaijin und das Mädchen sie am Geländer einer Wohnung im zweiten Stock überraschen, wie sie gerade dabei ist, ihre Wäsche zu schrubben.

»Wen haben wir denn da?«, fragt eine Stimme.

Emiko weicht erschrocken zurück — beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Sie springt ins Wasser und rennt mit viel Geplantsche in den sicheren Schatten des verlassenen Apartments.

Das Boot des Gaijin stößt gegen die Brüstung. »Sawatdi khrap?«, ruft er. »Hallo?«

Er ist alt, hat fleckige Haut und einen wachen Blick, der seine Intelligenz verrät. Das Mädchen ist anmutig, mit brauner Haut und einem sanften Lächeln. Beide lehnen sich gegen das Geländer und spähen vom Boot aus ins dunkle Innere der Wohnung. »Lauf doch nicht weg, kleines Ding«, sagt der alte Mann. »Wir sind völlig ungefährlich. Ich kann kaum laufen, und Kip hier ist ein äußerst liebenswürdiges Geschöpf.«

Emiko zögert. Aber sie geben nicht auf. Angestrengt halten sie weiterhin nach ihr Ausschau.

»Bitte?«, ruft das Mädchen.

Wider besseres Wissens tritt Emiko hinauf; dabei watet sie vorsichtig durch das knöcheltiefe Wasser. Es ist lange her, seit sie mit jemandem gesprochen hat.

»Heechy-Keechy«, flüstert das Mädchen.

Bei dem Ausdruck muss der Gaijin lächeln. »Sie nennen sich Neue Menschen.« Es klingt nicht abschätzig. Er hält ein paar schlaff herabhängende Cheshire in die Höhe. »Junge Frau, möchten Sie vielleicht mit uns speisen?«