»Der Junge hat erzählt, dass ein Mann namens Gi Bu Sen ihnen Baupläne gibt. Aber er hintergeht sie mehr, als dass er ihnen hilft. Doch seine Tante hat einen Trick entdeckt. Und dann haben sie die Ngaw erfolgreich gehackt. Bei der Ngaw hat ihnen Gi Bu Sen fast gar nicht geholfen. Letztlich hat seine Tante die ganze Arbeit gemacht.« Emiko nickt. »Das hat er mir erzählt. Dieser Gi Bu Sen versucht sie hereinzulegen. Aber seine Tante ist zu schlau, um darauf hereinzufallen.«
Der Mann mit der Narbe mustert sie eingehend. Eisige blaue Augen. Die Haut leichenblass. »Gi Bu Sen«, murmelt er. »Und du bist dir sicher, dass er so hieß?«
»Gi Bu Sen. Ganz sicher.«
Der Mann nickt, in Gedanken versunken. Die Lampe, die Raleigh für das Opium verwendet, knistert in der Stille. Trotz der späten Stunde erschallen weit unter ihnen auf der Straße die Rufe eines Wasserverkäufers; seine Stimme schwebt durch die offenen Fensterläden und die Fliegengitter zu ihnen herein. Sie scheint den Gaijin aus seinem Tagtraum zu reißen. Seine blassen Augen richten sich wieder auf Emiko. »Ich würde es gerne erfahren, falls dein Freund zurückkommt und dir noch einen Besuch abstattet.«
»Er hat sich geschämt, hinterher.« Emiko fasst sich an die Wange, wo sie unter der Schminke einen verblassenden Bluterguss verbirgt. »Ich glaube nicht, dass er …«
Raleigh unterbricht sie. »Manchmal kommen sie wieder. Selbst wenn sie ein schlechtes Gewissen haben.« Er wirft ihr einen finsteren Blick zu, und sie nickt zustimmend. Der Junge wird nicht zurückkehren, aber wenn es den Gaijin glücklich macht, das zu glauben … Raleigh wird es jedenfalls glücklich machen. Raleigh ist ihr Patron. Also sollte sie ihm beipflichten. Und zwar mit Überzeugung.
»Manchmal …« Mehr bekommt sie nicht zustande. »Manchmal kommen sie zurück, selbst wenn sie sich schämen.«
Der Gaijin mustert sie beide. »Warum geben Sie ihr nicht etwas Eis, Raleigh?«
»Es ist noch nicht Zeit für ihre nächste Runde. Außerdem muss sie gleich auf die Bühne.«
»Ich komme für den Verlust auf.«
Raleigh möchte ganz offensichtlich bleiben, aber er ist klug genug, nicht zu widersprechen. Er ringt sich ein Lächeln ab. »Natürlich. Warum unterhalten Sie beide sich nicht ein wenig? « Als er hinausgeht, wirft er ihr einen vielsagenden Blick zu. Emiko versteht, was er von ihr erwartet — sie soll den Gaijin verführen. Ihn mit Aufziehmädchensex ködern und der Verlockung echter Sünde. Und dann soll sie ihm genau zuhören und berichten, wie alle Mädchen das tun.
Sie lehnt sich näher zu dem Gaijin hinüber und lässt ihn ihre nackte Haut sehen. Seine Augen wandern ihren Oberschenkel hinauf bis zu ihrem Pha Sin, unter dem sich ihre Hüftknochen abzeichnen. Dann wendet er den Blick ab. Emiko bemüht sich, ihre Verwirrung nicht zu zeigen. Fühlt er sich von ihr angezogen? Ist er nervös? Angewidert? Sie weiß es nicht. Bei den meisten Männern ist es einfach. Sie passen in eindeutige Schablonen. Sie fragt sich, ob ihn Neue Menschen zu sehr anekeln, oder ob ihm vielleicht Jungen besser gefallen.
»Wie ist es dir überhaupt gelungen, hier zu überleben?«, fragt der Gaijin. »Die Weißhemden hätten dich längst kompostieren müssen.«
»Bestechung. Solange Raleigh-san bereit ist, für mich zu bezahlen, werden sie mich ignorieren.«
»Und hast du auch eine Wohnung? Für die Raleigh ebenfalls bezahlt?« Als sie nickt, sagt er: »Ziemlich teuer, nehme ich an.«
Sie zuckt mit den Achseln. »Raleigh-san führt über meine Schulden Buch.«
Wie gerufen kehrt Raleigh mit dem Eis zurück. Der Gaijin hält inne, als Raleigh durch die Tür hereinkommt, und wartet ungeduldig, während Raleigh das Glas auf den Tisch stellt. Raleigh zögert, und als der Mann mit der Narbe ihm keine Beachtung schenkt, murmelt er etwas, das sich wie »Viel Vergnügen« anhört, und geht wieder hinaus. Nachdenklich schaut sie dem Alten hinterher und fragt sich, wie es kommt, dass der Fremde eine solche Macht über Raleigh hat. Vor ihr schwitzt verführerisch das Glas Eiswasser. Auf ein Nicken des Gaijin hin greift sie danach und trinkt. Krampfartig. Bevor sie sich versieht, ist es leer. Sie drückt sich das kalte Glas gegen die Wange.
Der Mann mit der Narbe beobachtet sie. »Du bist also nicht für die Tropen konstruiert worden«, sagt er. Er beugt sich vor und mustert sie. Sein Blick wandert über ihre Haut. »Interessant, dass deine Schöpfer die Struktur deiner Haut verändert haben.«
Sie muss sich beherrschen, um nicht vor seiner Neugierde zurückzuweichen. Stattdessen rückt sie näher an ihn heran. »Das soll meine Haut anziehender machen. Glatter.« Sie zieht ihren Pha Sin ein Stück weiter hinauf und entblößt ihren Oberschenkel. »Möchten Sie sie berühren?«
Er schaut sie fragend an.
»Bitte.« Sie nickt aufmunternd.
Er streckt die Hand aus und streicht ihr über die Haut. »Wundervoll«, murmelt er. Als ihm die Stimme stockt, verspürt sie eine gewisse Befriedigung. Er hat die Augen weit aufgerissen wie ein Kind, das die Fassung verloren hat. Schließlich räuspert er sich.
»Deine Haut brennt wie Feuer«, sagt er.
»Hai. Wie Sie gesagt haben — ich bin nicht für dieses Klima konstruiert worden.
Jetzt inspiziert er sie von Kopf bis Fuß. Sein hungriger Blick gleitet über sie hinweg, als könne er sich nicht an ihr sattsehen. Raleigh würde zufrieden sein. »Das leuchtet ein«, sagt er. »Dein Modell verkauft sich bestimmt nur an die Eliten … und die leben in voll klimatisierten Räumen.« Er nickt vor sich hin und studiert sie weiter. »Das wäre der Kompromiss ihnen wert.«
Er blickt zu ihr auf. »Mishimoto? Stammst du von Mishimoto? Aber ein Diplomatenmodell bist du auf keinen Fall. Die Regierung würde nie einen Aufziehmenschen ins Land bringen, nicht bei der religiösen Grundhaltung des Palasts …« Er blickt ihr in die Augen. »Mishimoto wollte dich loswerden, habe ich Recht?«
Emiko kämpft gegen das plötzliche Schamgefühl an. Sie kommt sich vor, als würde er sie aufschlitzen und in ihren Eingeweiden wühlen, so distanziert und sachlich, dass es schon wieder beleidigend ist, wie ein Medizintechniker, der wegen Verdacht auf Cibiskose eine Autopsie durchführt. Sie stellt das Glas vorsichtig auf den Tisch zurück. »Sind Sie ein Genfledderer? «, fragt sie. »Wissen Sie deshalb so viel über mich?«
Sein Gesichtsausdruck verändert sich augenblicklich — von naiver Faszination zu einem wissenden Grinsen. »Ich betreibe das eher als Hobby«, sagt er. »Als Genspäher, sozusagen.«
»Wirklich?« Sie zeigt ihm einen Teil der Verachtung, die sie für ihn empfindet. »Sie stammen nicht zufällig aus dem, sagen wir, Midwest Compact? Für einen der großen Konzerne?« Sie beugt sich vor. »Sind Sie womöglich ein Kalorienfänger?«
Die letzten Worte flüstert sie, aber ihre Wirkung ist nicht zu übersehen. Der Fremde zuckt zurück. Sein Lächeln erstarrt, doch seine Augen mustern sie, als wäre er ein Mungo, der eine Kobra beobachtet. »Was für eine interessante Idee«, sagt er.
Nachdem sie sich eben noch so sehr schämte, tut es ihr gut, ihn in die Enge getrieben zu haben. Wenn sie Glück hat, wird der Gaijin sie auf der Stelle töten. Dann hätte sie wenigstens ihren Frieden.
Sie wartet darauf, dass er sie schlägt. Niemand duldet es, von einem Neuen Menschen beleidigt zu werden. Mizumi-sensei hat jede Andeutung von Ungehorsam schon im Keim erstickt. Sie lehrte Emiko zu gehorchen, sich zu verneigen, sich den Wünschen der Mächtigeren zu beugen und dabei stolz auf ihre Rolle zu sein. Auch wenn sich Emiko schämt, wie der Gaijin in ihrer Vergangenheit herumschnüffelt, und dass sie die Beherrschung verloren hat, nach Mizumi-senseis Lehren wäre das dennoch kein Grund, den Fremden zu provozieren. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Was getan ist, ist getan, und Emiko hat mit ihrem Leben abgeschlossen — sie wird freudig jeden Preis zahlen, den der Fremde von ihr fordert.