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Stattdessen sagt der Mann mit der Narbe: »Erzähl mir noch einmal, was in der Nacht mit dem Jungen vorgefallen ist.« Der Zorn ist aus seinem Blick gewichen, und seine Miene verrät, dass er keinen Widerspruch dulden wird. Wieder muss sie an Gendo-sama denken. »Sag mir alles«, flüstert er. »Jetzt.« Seine Stimme trifft sie wie ein Peitschenschlag.

Sie gibt sich alle Mühe, ihm standzuhalten, doch der allen Neuen Menschen einprogrammierte Zwang zu gehorchen ist zu stark, das Gefühl von Scham angesichts ihres Ungehorsams zu überwältigend. Er ist nicht dein Patron, ermahnt sie sich, und trotzdem möchte sie ihm mit einer solchen Unbedingtheit gehorchen, dass sie sich dabei fast in die Hose macht.

»Er ist letzte Woche gekommen …« Noch einmal schildert sie die Einzelheiten jener Nacht mit dem Weißhemd. Dabei schmückt sie die Geschichte aus, um dem Gaijin eine Freude zu machen, ganz so, wie sie früher für Gendo-sama Shamisen gespielt hat — eine Hündin, die ihrem Herrn alles recht machen möchte. Könnte sie ihm nur sagen, er solle Rostwelke fressen und sterben! Doch das liegt nicht in ihrer Natur, und so erzählt sie stattdessen, und der Gaijin hört ihr zu.

Er lässt sie vieles wiederholen, stellt weitere Fragen. Kehrt zu Nebensächlichkeiten zurück, von denen sie glaubte, er hätte sie vergessen. Er ist unbarmherzig, nimmt ihre Geschichte Stück für Stück auseinander, fordert Erklärungen. Er weiß, wie man Fragen formuliert. Gendo-sama hat seine Untergebenen auf diese Art und Weise ausgefragt, wenn er wissen wollte, warum ein Klipper nicht termingerecht fertiggestellt worden war. Er bohrte sich durch Ausreden wie ein genmanipulierter Rüsselkäfer.

Schließlich nickt der Gaijin zufrieden. »Gut«, sagt er. »Sehr gut.«

Emiko verspürt Freude über sein Lob in sich aufwallen und hasst sich zugleich dafür. Der Gaijin trinkt seinen Whisky aus. Greift in die Tasche, zieht ein Bündel Geldscheine hervor und zählt im Aufstehen einen Teil davon ab.

»Die sind für dich, nur für dich. Lass Raleigh nichts davon sehen. Ihn bezahle ich selbst, bevor ich gehe.«

Vermutlich sollte sie ihm dankbar sein, aber sie fühlt sich ausgenutzt. Ebenso ausgenutzt von diesem Mann und seinen Worten wie von allen anderen auch — den heuchlerischen Grahamiten und den Weißhemden des Umweltministeriums, die den Nervenkitzel des Tabubruchs suchen und nach Sex mit einer absonderlichen, unreinen Kreatur gieren.

Sie hält die Geldscheine zwischen den Fingern. Ihre Ausbildung gebietet Höflichkeit, doch die selbstgerechte Großzügigkeit des Gaijin ärgert sie.

»Was, glaubt der Gentleman, werde ich mit diesen Baht tun?«, fragt sie. »Soll ich mir hübschen Schmuck kaufen? Mich selbst zum Abendessen einladen? Ich gehöre mir nicht. Ich bin Raleighs Eigentum.« Sie wirft ihm das Geld vor die Füße. »Es spielt keine Rolle, ob ich reich bin oder arm. Ich bin eine Sklavin.«

Der Fremde hält inne, eine Hand auf der Schiebetür. »Warum läufst du dann nicht weg?«

»Wohin? Meine Importgenehmigung ist abgelaufen.« Sie lächelt verbittert. »Ohne den Schutz und die Verbindungen von Raleigh-san würden mich die Weißhemden kompostieren.«

»Du könntest in den Norden fliehen«, erwidert der Fremde. »Zu den anderen Aufziehmenschen.«

»Was für andere Aufziehmenschen?«

Der Fremde lächelt. »Raleigh hat dir nichts von ihnen erzählt? Von den Enklaven der Aufziehmenschen in den Bergen? Von den Flüchtlingen aus dem Kohlekrieg? Den Freigelassenen? «

Als er ihr ausdrucksloses Gesicht sieht, fährt er fort: »Dort oben gibt es ganze Dörfer, die vom Dschungel leben. Das Land ist arm und von Genhackern fast vollständig zerstört. Es liegt hinter Chiang Rai, jenseits des Mekong. Aber die Aufziehmenschen dort haben keine Patrone, und sie gehören auch niemandem. Der Kohlekrieg tobt noch immer, aber wenn du deine Nische so sehr hasst, ist es eine Alternative zu Raleigh.«

»Stimmt das?« Sie beugt sich vor. »Diese Dörfer, gibt es die wirklich?«

Der Fremde lächelt erneut. »Du kannst Raleigh fragen, wenn du mir nicht glaubst. Er hat sie mit eigenen Augen gesehen. « Er hält inne. »Allerdings wird er keinen Vorteil darin sehen, dir davon zu erzählen. Sonst kommst du noch auf die Idee, deine Ketten abzustreifen.«

»Sagen Sie mir auch die Wahrheit?«

Der blasse Mann tippt sich mit dem Finger an den Hut. »Wenigstens so sehr, wie du mir die Wahrheit gesagt hast.« Er schiebt die Tür auf und schlüpft hindurch. Emiko bleibt alleine zurück, mit pochendem Herzen und dem plötzlichen Willen zu leben.

4

»500, 1000, 5000, 7500 …«

Das Königreich vor allen Infektionen der Natur beschützen zu wollen, gleicht dem Versuch, den Ozean in einem Netz zu fangen. Eine gewisse Anzahl von Fischen mag man erwischen, aber der Ozean ist ewig und strömt durch die Maschen.

»10 000, 12 500, 15 000 … 25 000 …«

Hauptmann Jaidee Rojjanasukchai ist sich dessen mehr als bewusst, wie er da mitten in der schwülheißen Nacht unter dem gewaltigen Rumpf des Luftschiffs der Farang steht. Über ihm drehen sich surrend die Turbopropeller. Die Fracht liegt verstreut auf dem Flugfeld, die Kisten aufgebrochen, der Inhalt über den ganzen Ankerplatz verteilt, als hätte ein Kind mit seinem Spielzeug um sich geworfen. Verschiedenste Kostbarkeiten und verbotene Ware.

»30 000, 35 000 … 50 000 …«

Um ihn herum erstreckt sich der frisch renovierte Flugplatz von Bangkok, der von an Spiegeltürmen montierten Hochleistungs-Methanlampen erleuchtet wird: Auf der riesigen, in grünes Licht getauchten Freifläche reihen sich die Ankerplätze aneinander; darüber schweben die gewaltigen Ballons der Farang. An den Rändern soll der dichte Bestand von HiGro-Bambus und gesponnenem Stacheldraht die internationalen Grenzen markieren.

» 60 000, 70 000, 80 000 …«

Das Königreich Thailand wird verschlungen. Jaidee lässt müßig den Blick über die Verwüstung schweifen, die seine Leute angerichtet haben — es ist nicht zu übersehen. Sie werden vom Ozean verschlungen. Fast jede Kiste enthält etwas Verdächtiges. Wobei die Kisten nur symbolisch für andere, allgegenwärtige Probleme stehen: In Chatuchak werden Chemikalien-Bäder vom grauen Markt verkauft, und im Dunkel der Nacht staken Männer in ihren Booten den Chao Phraya hinauf, den Rumpf voller Ananasfrüchte der nächsten Generation. Unaufhörlich weht Blütenstaub über die Halbinsel und bringt die neusten Genom-Konstrukte von AgriGen und PurCal mit sich, während die Cheshire fast unsichtbar in den Abfällen der Soi wühlen und Jingjok2-Eidechsen die Eier von Nachtschwalben und Pfauen rauben. Elfenbeinkäfer bohren sich durch die Wälder des Khao Yai, während die Pflanzenwelt und die dicht gedrängten Menschenmassen von Krung Thep von Cibiskose-Zuckern, Rostwelke und der fa’ gan-Wucherung durchseucht werden.

Es ist der Ozean, der all dies mit sich bringt. Der Träger allen Lebens.

»90 … 100 000 … 110 … 125 …«

Große Denker wie Premwadee Srisati und Apichat Kunikorn mögen über die besten Schutzmaßnahmen oder über die Vorteile der UV-Sterilisierung als Barriere entlang der Grenzen des Königreichs im Vergleich zur nächsten Präventivmutation der Genhacker diskutieren, doch das sind Jaidees Ansicht nach alles Idealisten. Der Ozean findet immer einen Weg.

»126 … 127 … 128 … 129 …«

Jaidee beugt sich über die Schulter von Leutnant Kanya Chirathivat und schaut ihr dabei zu, wie sie die Bestechungsgelder zählt. Zwei Zollinspektoren stehen steif daneben und warten darauf, dass sie ihre Autorität zurückerhalten.