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Er zieht eine Grimasse und wendet seine Aufmerksamkeit wieder den aufgeschlagenen Büchern zu, seinem eigentlichen Problem — der offenen Frage, wegen der er an Bord von Klippern und Luftschiffen um die halbe Welt gereist ist: Gi Bu Sen. Das Aufziehmädchen hat Gi Bu Sen gesagt.

Anderson kramt in seinen Büchern und Papieren, zieht eine Fotografie hervor. Ein fetter Mann, der auf einer von AgriGen gesponserten Konferenz über die Mutationen der Rostwelke mit anderen Wissenschaftlern aus dem Midwest zusammensitzt. Er hat den Blick von der Kamera abgewandt, wirkt gelangweilt; die dicken Hautfalten an seinem Hals sind nicht zu übersehen.

Bist du noch immer so fett?, fragt sich Anderson. Verköstigen die Thai dich genauso gut wie wir?

Es gab nur drei Möglichkeiten: Bowman, Gibbons und Chaudhuri. Bowman, der verschwunden ist, unmittelbar bevor das SoyPRO-Monopol gebrochen wurde. Chaudhuri, der aus einem Luftschiff ausgestiegen und in den indischen Ländereien verschwunden ist, entweder entführt oder geflohen oder tot. Und Gibbons. Gi Bu Sen. Der Klügste von allen und derjenige, der mit der größten Wahrscheinlichkeit nicht dahintersteckt. Schließlich ist er tot! Seine Kinder haben seine Leiche aus der Asche seines Hauses gezogen … und sie einäschern lassen, bevor der Konzern eine Autopsie durchführen konnte. Aber tot ist er. Als die Kinder an Lügendetektoren angeschlossen und unter Drogen befragt wurden, sagten sie immer nur, ihr Vater hätte darauf bestanden, dass an ihm keine Autopsie vorgenommen werden dürfe. Dass er den Gedanken nicht ertragen könne, sein Leichnam würde aufgeschlitzt und mit Konservierungsmitteln vollgepumpt. Aber die DNA stimmte überein. Er war es. Davon waren alle überzeugt.

Allerdings kommen einem leicht Zweifel, wenn von der vorgeblichen Leiche des besten Genfledderers der Welt nicht mehr gefunden wird als ein paar Splitter seines Erbguts.

Anderson blättert weiter in seinen Unterlagen — er sucht nach dem Bericht über die letzten Tage des Kalorienfängers, die auf dem basieren, was die Abhörgeräte in seinen Laboren lieferten. Nichts. Kein einziger Hinweis auf seine Pläne. Und dann war er tot. Und sie sahen sich gezwungen, das zu glauben.

Immerhin wäre das eine Erklärung für die Ngaw. Und auch für die Nachtschattengewächse. Gibbons stellte immer gerne sein Können zur Schau. Seine Geltungssucht war legendär. Alle seine Kollegen sagten das. Eine vollständige Samenbank als Spielzeug, das wäre ganz nach Gibbons’ Geschmack. Eine ganze Gattung wiederaufleben zu lassen — und sie auch noch um die lokalen Schätze zu bereichern! Ngaw. Zumindest geht Anderson davon aus, dass die Frucht einheimisch ist. Aber wer weiß? Vielleicht ist sie auch eine völlig neue Schöpfung? Etwas, das gänzlich Gibbons’ Geist entsprungen ist, so wie Eva aus Adams Rippe geschaffen wurde.

Anderson blättert müßig in den Büchern und Aufzeichnungen. Nirgendwo wird die Ngaw erwähnt. Alles, was er hat, ist das thailändische Wort und ihre einzigartige Gestalt. Er weiß nicht einmal, ob Ngaw die traditionelle Bezeichnung für die rot-grüne Frucht ist oder ein neuer Name. Er hatte gehofft, dass Raleigh sich würde selbst an etwas erinnern können, aber der Mann ist alt und von Opium ganz benebelt — falls er einmal ein Angrit-Wort für die historische Frucht wusste, hat er es jetzt vergessen. Jedenfalls gibt es keine einleuchtende Übersetzung. Bevor Des Moines die Proben untersuchen kann, wird mindestens ein Monat vergehen. Und ob sie in ihren Verzeichnissen fündig werden, ist ebenso wenig sicher. Wenn die Frucht in ausreichendem Maß verändert wurde, gibt es keine schnelle Methode, um die DNA zu bestimmen.

Eines ist gewiss: Die Ngaw ist neu. Keiner der Fahnder hat in den vor einem Jahr durchgeführten Ökosystem-Inventuren etwas Derartiges beschrieben. Die Ngaw tauchte aus dem Nichts auf. Als hätte der Boden des Königreichs einfach beschlossen, der Vergangenheit neues Leben einzuhauchen und sie auf den Märkten Bangkoks feilzubieten.

Anderson gibt die Suche nicht auf und blättert in einem weiteren Buch. Seit seiner Ankunft hat er eine Bibliothek zusammengetragen, die einen Blick in die Geschichte der Stadt der Engel gewährt — Bände, die vor den Kalorienkriegen und Seuchen geschrieben wurden, vor der Kontraktion. Er hat alles geplündert, von den Antiquitätenläden bis hin zu den Trümmern der Expansionshochhäuser. Der Großteil des Papiers aus jener Zeit ist längst verbrannt oder in dem feuchten Tropenklima verrottet, aber er ist trotzdem auf Inseln der Gelehrsamkeit gestoßen, auf Familien, für die Bücher mehr bedeuteten als nur eine Möglichkeit, rasch ein Feuer zu machen. Das angehäufte Wissen säumt nun seine Wände, Band um Band, mit Schimmel bedeckt. Ihn deprimiert das. Es erinnert ihn an Yates — dieser verzweifelte Drang, den Kadaver der Vergangenheit auszugraben und wiederzubeleben.

»Stellen Sie sich doch nur vor!«, hatte Yates geprahlt. »Eine neue Expansion! Luftschiffe, hochmoderne Spannfedern, der Handel im Aufwind …«

Auch Yates hatte Bücher besessen. Verstaubte Schinken, die er in ganz Amerika aus Bibliotheken und Handelsschulen gestohlen hatte, das gering geschätzte Wissen der Vergangenheit — eine bedachtsame Plünderung Alexandrias, an der niemand Anstoß nahm, weil jeder wusste, dass es mit dem globalen Handel vorbei war.

Als Anderson eintraf, waren die Büros von SpringLife mit Büchern vollgestopft gewesen, Yates’ Schreibtisch von ganzen Stapeln eingemauert: Globales Management in der Praxis, Interkultureller Handel, Die asiatische Seele, Die kleinen Tiger Asiens, Zulieferketten und Logistik, Pop-Thai, Die neue globale Ökonomie, Überlegungen zur Auswirkung von Wechselkursen auf Zulieferketten, Die Thai meinen es ernst, Internationaler Wettbewerb und seine Regulierung. Jede nur erdenkliche Information, die irgendetwas mit der alten Expansion zu tun hatte.

In seinen letzten Augenblicken der Verzweiflung hatte Yates auf diese Stapel gedeutet und gesagt: »Aber das können wir doch wiederhaben! Alles!« Und dann war er in Tränen ausgebrochen, und Anderson hatte endlich Mitleid mit ihm gehabt. Yates hatte sein ganzes Leben auf etwas hingearbeitet, das es niemals geben würde.

Anderson blättert rasch ein weiteres Buch durch, überprüft eine uralte Fotografie nach der anderen. Chilis. Ein ganzer Haufen davon, vor einem Fotografen ausgebreitet, der vor langer Zeit gestorben ist. Chilis. Auberginen. Tomaten. Wieder diese ganzen wundervollen Nachtschattengewächse. Wären die nicht gewesen, hätte die Zentrale ihn erst gar nicht nach Thailand geschickt, und dann hätte Yates vielleicht eine Chance gehabt.

Anderson greift nach seinem Päckchen von Hand gerollter Singha-Zigaretten, zündet eine an und lehnt sich zurück. Tief in Gedanken versunken, blickt er dem Rauch der Alten nach. Es amüsiert ihn, dass die Thai inmitten der herrschenden Hungernot die Zeit gefunden haben, die Nikotinabhängigkeit wiederzubeleben. Er fragt sich, ob sich die menschliche Natur denn nie ändern wird.

Die Sonne scheint herab und taucht ihn in grelles Licht. Durch die feuchte Luft und den Dunst von brennendem Dung kann er in der Ferne gerade so das Industriegebiet erkennen; die in regelmäßigen Abständen errichteten Gebäude dort unterscheiden sich grundlegend von der alten Stadt, einem Gewirr aus Ziegeln und Rostfarbe. Jenseits der Fabriken erhebt sich der Rand des Damms, der es mit seinem gewaltigen Schleusensystem möglich macht, Waren über das Meer zu transportieren. Alles verändert sich. Der globale Handel setzt sich wieder durch. Lieferungen gehen in die ganze Welt. Alles kehrt zurück, auch wenn es nicht leicht ist, vergessene Fertigkeiten neu zu erlernen. Yates hat die Spannfedern geliebt, aber noch mehr liebte er die Vorstellung, der Geschichte der Menschheit neues Leben einzuhauchen.