Emiko bemüht sich, nicht alles anzustarren; es ist lange her, seit sie sich das letzte Mal getraut hat, bei helllichtem Tag auf die Straße zu gehen. Als Raleigh ihren Schlafsarg erwarb, erteilte er ihr strikte Anweisungen. Er konnte sie nicht in Ploenchit wohnen lassen — selbst Huren und Zuhälter und Drogenabhängige haben ihre Grenzen —, also brachte er sie in einem Slum unter, wo die Bestechungsgelder niedriger und die Nachbarn nicht wählerisch waren, was den Abschaum betraf, der neben ihnen wohnte. Aber seine Befehle waren unmissverständlich gewesen: Geh nur nachts hinaus, halte dich im Dunkeln, komm auf direktem Wege in den Club und geh auf direktem Wege nach Hause zurück. Sonst konnte er für nichts garantieren.
Die Härchen in ihrem Nacken richten sich auf, während sie durch die Menschenmassen schlüpft. Den meisten Leuten ist sie gleichgültig. Ein Vorteil ist, dass die Leute bei Tageslicht viel zu beschäftigt sind, um auf ein Geschöpf wie sie irgendwelche Gedanken zu verschwenden, wenn sie ihre seltsamen Bewegungen denn überhaupt bemerken. Wenn im Dunkel der Nacht die grünen Methanlampen flackern, gibt es weniger Augenpaare, aber sie sind müßig, ganz high von Yaba oder Lao Lao und haben Zeit und Gelegenheit, ihr nachzustellen.
Eine Frau, die vom Umweltministerium zertifizierte Papayaschnitze verkauft, beobachtet sie misstrauisch. Emiko zwingt sich, nicht in Panik zu geraten. Sie geht weiter die Straße entlang, setzt affektiert einen Fuß vor den anderen und versucht sich einzureden, dass sie exzentrisch wirkt und nicht wie eine genetische Missgeburt. Das Herz pocht ihr gegen die Rippen.
Du gehst zu schnell. Schön langsam. Du hast Zeit. Nicht so viel, wie du gerne hättest, aber doch genug, um Fragen zu stellen. Langsam. Hab Geduld. Verrate dich nicht. Dir darf nicht zu heiß werden!
Ihre Handflächen sind schweißnass — der einzige Teil ihres Körpers, der sich jemals kühl anfühlt. Sie streckt die Finger aus, als wären ihre Hände Fächer. An einer öffentlichen Pumpe bleibt sie stehen, spritzt sich Wasser auf die Haut und trinkt in tiefen Zügen, froh darüber, dass die Neuen Menschen von bakteriellen oder parasitären Infektionen wenig zu befürchten haben.
Wäre sie kein Neuer Mensch, würde sie einfach in den Bahnhof Hua Lamphong hineinstolzieren, einen Fahrschein für einen Spannfederzug kaufen, damit in die Bergregionen von Chiang Mai fahren und sich von dort aus in die Wildnis durchschlagen. Nichts leichter als das. Stattdessen muss sie listig sein. Die Straßen sind bestimmt bewacht. Jeder Weg, der nach Nordosten und zum Mekong führt, wird mit Soldaten verstopft sein, die zwischen der Ostfront und der Hauptstadt hin und her transportiert werden. Ein Neuer Mensch würde Aufmerksamkeit erregen, zumal aufseiten der vietnamesischen Armee Aufziehmenschen kämpfen.
Aber es gibt einen anderen Weg. Aus ihrer Zeit bei Gendo-sama weiß sie, dass ein Großteil der Frachtgüter des Königreichs auf dem Fluss befördert werden.
Emiko biegt in die Thanon Mongkut, die zu den Docks und den Deichen führt, und bleibt unvermittelt stehen. Weißhemden. Sie drückt sich gegen eine Wand, während die beiden vorbeischlendern. Sie schauen sie nicht einmal an — wenn sie sich nicht bewegt, verschmilzt sie mit ihrer Umgebung —, aber trotzdem, kaum sind sie außer Sichtweite, verspürt sie den Drang, sich wieder in ihrem Hochhaus zu verkriechen. Die meisten Weißhemden dort sind geschmiert. Aber diese hier … Ein Schauer läuft ihr den Rücken hinunter.
Endlich erreicht sie die Lagerhäuser und Handelsniederlassungen der Gaijin, das neu errichtete Geschäftsviertel. Sie steigt den Damm hinauf. Oben angekommen, erstreckt sich der Ozean vor ihr — Klipper werden entladen, Dockarbeiter und Kulis schleppen Kisten und Säcke, Mahout spornen Megodonten zu noch mehr Leistung an, während die Tiere Paletten von den Schiffen wuchten und auf riesige Wagen mit Reifen aus laotischem Kautschuk, die sie in die Lagerhäuser bringen. Vieles von dem, was sie hier sieht, erinnert sie an ihr früheres Leben.
Ein Fleck am Horizont kennzeichnet die Quarantäneinsel Koh Angrit, wo die Gaijin-Händler und Agrarmanager zwischen ihren Kalorienvorräten kauern und geduldig auf die nächste Missernte warten oder auf die nächste Seuche, die das Königreich zwingen werden, die Handelsbeschränkungen aufzuheben. Gendo-sama hat sie einmal auf diese schwimmende Insel der Bambusflöße und Lagerhäuser mitgenommen. Er stand auf den sanft schlingernden Planken und ließ sie übersetzen, während er den Ausländern selbstbewusst Verbesserungen in der Segeltechnologie verkaufte, die den Transport von patentiertem SoyPRO um die ganze Welt beschleunigen würden.
Emiko seufzt und duckt sich unter den Saisin-Leinen hindurch, die den Deich krönen. Der heilige Faden verläuft in beide Richtungen und verschwindet in der Ferne. Jeden Morgen segnen ihn die Mönche unterschiedlicher Tempel und fügen dem materiellen Wasserwehr, das die hungrige See zurückhält, ihre spirituelle Unterstützung hinzu.
In ihrem früheren Leben, als Gendo-sama sie mit Genehmigungen und Gefälligkeiten versorgte, die es ihr gestatteten, sich in der Stadt frei zu bewegen, hatte Emiko die Gelegenheit, der jährlichen Zeremonie beizuwohnen, bei der die Deiche und Pumpen gesegnet wurden und auch die Saisin, die alles miteinander verbinden. Während der erste Monsunregen auf die versammelten Menschen herabprasselte, sah Emiko zu, wie Ihre hochverehrte Majestät, die Kindskönigin, die Hebel umlegte, welche die heiligen Pumpen unter lautem Getöse zu neuem Leben erweckten; neben den Maschinen, die ihre Vorfahren geschaffen hatten, wirkte ihre zarte Gestalt geradezu winzig. Mönche sangen und spannten neue Saisin von der Stadtsäule, dem spirituellen Herzen Krung Theps, zu allen zwölf kohlebetriebenen Pumpen, die um die Stadt herum angeordnet waren, und dann beteten sie alle um den Fortbestand ihrer zerbrechlichen Stadt.
Jetzt, während der Trockenzeit, wirkt der Saisin vernachlässigt, und die Pumpen schweigen fast alle. Die schwimmenden Docks, die großen Frachtkähne und kleinen Boote tanzen im roten Sonnenlicht.
Emiko kämpft sich durch das Gewühl und hält Ausschau nach einem freundlichen Gesicht. Die Menschen eilen an ihr vorbei, und sie hält ganz still, um sich nicht zu verraten. Schließlich nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen und ruft einem Tagelöhner zu: »Kathorh kha. Bitte, Khun. Kannst du mir sagen, wo ich Fahrscheine für die Fähren nach Norden kaufen kann?«
Der Mann ist von Kopf bis Fuß mit Staub und Schweiß bedeckt, aber er lächelt. »Wie weit nach Norden?«
Sie riskiert es, den Namen einer Stadt zu nennen, obwohl sie nicht weiß, ob sich diese in der Nähe des Ortes befindet, von dem der Gaijin gesprochen hat. »Phitsanulok?«
Er verzieht das Gesicht. »Dorthin fährt nichts, hinter Ayutthaya ist Schluss. Die Flüsse führen nicht genug Wasser. Manche Leute benutzen Mulis, um weiter nach Norden zu gelangen. Andere Spannfederboote. Und der Krieg …« Er zuckt mit den Achseln. »Wenn du nach Norden musst, solltest du die Straßen nehmen — sie sind noch eine Weile trocken.«
Sie weiß ihre Enttäuschung zu verbergen und bedankt sich mit einem tiefen Wai. Der Fluss kommt also nicht infrage. Die Straße oder gar nichts. Wenn Sie den Fluss nehmen könnte, hätte sie auch eine Möglichkeit, sich abzukühlen. Auf der Straße … Sie stellt sich vor, wie sie in der tropischen Glut der Trockenzeit die weite Entfernung zurücklegt. Vielleicht sollte sie die Regenzeit abwarten. Mit dem Monsun fallen die Temperaturen, und die Flüsse steigen …
Emiko geht wieder zurück über den Damm und durch die Slums, in denen die Familien der Dockarbeiter wohnen und die Seeleute, die aus der Quarantäne entlassen wurden. Die Straße also. Es war töricht, überhaupt hierherzukommen. Wenn es ihr gelänge, in einen Spannfederzug einzusteigen — aber dafür bräuchte sie einen Passierschein. Viele, viele Passierscheine, um auch nur die Stadt verlassen zu können. Wenn sie aber jemanden bestechen könnte oder als blinder Passagier mitfahren … Sie zieht eine Grimasse. Alle Wege führen zu Raleigh. Sie wird mit ihm sprechen müssen. Und die alte Krähe um etwas bitten, das er ihr zu geben keinen Grund hat.