Ratana winkt sie zu sich. Zeigt ihr auf dem Bildschirm eine Reihe von Fotografien. Ihr Blick fällt auf das Hauptmannsabzeichen an Kanyas weißem Kragen. »Das mit Jaidee tut mir leid. Er war … ein guter Mann.«
Kanya zieht eine Grimasse und versucht, die Erinnerung an Jaidees Phii im Korridor abzuschütteln. »Er war ein besserer Soldat als ich.« Eingehend betrachtet sie die Leichen vor ihr auf dem leuchtenden Bildschirm. »Was sehe ich da?«
»Zwei Männer. Aus zwei verschiedenen Krankenhäusern.«
»Und?«
»Sie hatten etwas in sich. Etwas Besorgniserregendes. Allem Anschein nach eine Variante der Rostwelke.«
»Ja. Und? Sie haben etwas Verdorbenes gegessen. Sie sind gestorben. Na, wenn schon.«
Ratana schüttelt den Kopf. »Es hat sich in ihnen eingenistet. Sich fortgepflanzt. Ich habe noch nie erlebt, dass Säugetiere der Rostwelke als Wirt dienen können.«
Kanya überfliegt die Krankenhausakten. »Wer waren sie?«
»Das wissen wir nicht.«
»Kein Familienbesuch? Niemand hat gesehen, wie sie eingeliefert wurden? Sie haben nichts gesagt?«
»Einer von ihnen redete nur noch wirr, als er aufgenommen wurde. Der andere war bereits tief im Rostwelke-Koma.
»Bist du sicher, dass sie nicht einfach nur verdorbenes Obst gegessen haben?«
Ratana zuckt mit den Achseln. Sie lebt schon so lange hier unten, dass ihre Haut glatt und weiß ist. Ganz im Unterschied zu Kanya, deren Haut, auf Streife der unbarmherzigen Sonne ausgesetzt, so braun ist wie die eines Bauern. Und trotzdem zieht sie das Leben über der Erde der Finsternis hier unten vor. Ratana ist die Tapfere von ihnen beiden, davon ist Kanya überzeugt. Was für Dämonen sie wohl heimgesucht haben, dass sie freiwillig an einem so schrecklichen Ort arbeitet? Als sie zusammen waren, sprach Ratana nie über ihre Vergangenheit. Über das, was sie verloren hatte. Aber der Verlust ist da, wie ein Felsen unter den schäumenden Wellen an der Küste. Felsen gibt es überall.
»Nein, natürlich bin ich nicht sicher. Nicht einhundert Prozent.«
»Fünfzig Prozent?«
Ratana zuckt erneut mit den Achseln, wendet sich wieder ihren Unterlagen zu. »Du weißt, dass ich keine solchen Behauptungen aufstellen kann. Aber der Virus ist ungewöhnlich — in den Proben finde ich atypische Proteinveränderungen. Der Zerfall des Gewebes entspricht nicht dem normalen Verlauf von Rostwelke. Doch wir kennen das Muster. Wir kennen es von den Varianten von AgriGen und TotalNutrient, AG134.s und TN249.x.d. Beide weisen deutliche Übereinstimmungen auf.« Sie hält inne.
»Aber?«
»Die Proben stammen aus der Lunge.«
»Also Cibiskose.«
»Nein. Rostwelke, ganz eindeutig.« Ratana sieht Kanya an. »Begreifst du, worin das Problem besteht?«
»Und wir haben keine Ahnung, wo die beiden Männer überall waren? Vielleicht sind sie aus dem Ausland gekommen. Auf einem Klipper. Um über die Grenze nach Burma zu gehen. Und von dort nach Südchina. Sie stammen nicht vielleicht aus demselben Dorf?«
Ratana hebt die Hände. »Wir wissen nichts, über keinen von ihnen. Der einzige Zusammenhang, der zwischen ihnen besteht, ist die Krankheit. Früher hatten wir eine Datenbank mit der DNA der Bevölkerung, Familienanamnese, Informationen über Adresse und Arbeitsplatz. Aber die wurde vom Netz genommen, damit uns mehr Rechenkapazität für die präventive Forschung zur Verfügung steht.« Sie lässt die Hände auf den Tisch sinken. »Die Leute ließen sich sowieso nicht registrieren, also hatte das eh keinen Sinn.«
»Also haben wir nichts. Irgendwelche anderen Fälle?«
»Nein.«
»Du meinst, bisher jedenfalls nicht.«
»Davon erfahre ich hier unten nichts. Diese beiden Fälle haben wir nur mitbekommen, weil die Weißhemden so hart durchgreifen. Die Krankenhäuser melden alles, in weit größerem Umfang als sonst, nur um zu zeigen, dass sie sich allem fügen. Es war Zufall, dass sie diese beiden Männer gemeldet haben, und es war auch Zufall, dass sie mir unter den ganzen Berichten, die hier eintreffen, aufgefallen sind. Wir brauchen die Hilfe von Gi Bu Sen.«
Kanya stellen sich die Nackenhaare auf. »Jaidee ist tot. Gi Bu Sen wird uns jetzt nicht mehr helfen.«
»Manchmal gelingt es uns, seine Neugier zu wecken. Dann interessiert er sich für mehr als nur seine eigenen Forschungsarbeiten. Bei dieser Sache wäre es immerhin möglich. « Sie blickt hoffnungsvoll zu Kanya auf. »Du hast Jaidee einmal begleitet. Du hast erlebt, wie er den Farang überzeugen konnte. Vieleicht kannst du genauso sein Interesse wecken? «
»Das bezweifle ich.«
»Schau dir das an.« Ratana kramt in den Krankenblättern. »Alles deutet auf einen gehackten Virus hin. Die Veränderungen in der DNA sehen nicht aus wie etwas, das sich in der freien Wildbahn fortpflanzen würde. Die Rostwelke hat keinen Grund, ins Tierreich überzuspringen. Das ist einfach zu unwahrscheinlich, so leicht wird sie nicht übertragen. Die Unterschiede sind deutlich, fast so, als würden wir in die Zukunft blicken. Als hätten wir etwas vor Augen, das 10 000 Mal wiedergeboren wurde. Ein echtes Rätsel. Und wirklich besorgniserregend.«
»Wenn du Recht hast, sind wir alle tot. General Pracha muss davon erfahren. Und der Palast ebenso.«
»Aber ohne großes Aufsehen«, entgegnet Ratana. Sie streckt die Hand aus und packt Kanya mit verzweifelter Miene am Ärmel. »Ich kann mich immer noch irren.«
»Das bezweifle ich.«
»Ich weiß nicht, wie ansteckend das Ganze wirklich ist. Ich möchte, dass du zu Gi Bu Sen gehst. Er wird es wissen.«
Kanya verzieht das Gesicht. »Na gut. Ich werde es versuchen. Und du hakst bei den Krankenhäusern und Straßenkliniken nach, dass sie nach Patienten mit ähnlichen Symptomen Ausschau halten sollen. Stell eine Liste auf. Bei dem, was gerade los ist, wird es niemandem auffallen, wenn wir weitere Informationen verlangen. Sie werden glauben, dass wir sie nur noch mehr unter Druck setzen wollen. Irgendetwas wird dabei schon herauskommen.«
»Wenn ich Recht habe, wird es Ausschreitungen geben.«
»Dann steht uns noch weit Schlimmeres bevor.« Kanya dreht sich zur Tür um — ihr ist übel. »Wenn du mit deinen Untersuchungen fertig bist und die Ergebnisse so weit vorliegen, dass sie überprüft werden können, werde ich mich mit deinem Teufel treffen.« Sie verzieht angewidert das Gesicht. »Du wirst deine Bestätigung erhalten.«
»Kanya?«
Sie dreht sich noch einmal um.
»Das mit Jaidee tut mir wirklich leid«, sagt Ratana. »Ich weiß, dass ihr euch nahestandet.«
Kanya beißt die Zähne zusammen. »Er war ein Tiger.« Sie öffnet die Tür und lässt Ratana in ihrem Reich der Finsternis zurück. Ein ganzer Gebäudekomplex, der dem Überlebenskampf des Königreichs gewidmet ist und Tag und Nacht wer weiß viele Kilowatt verbrennt — und das ohne einen echten Nutzen.
25
Anderson-sama erscheint ohne Vorwarnung, setzt sich neben sie auf einen Barhocker und bestellt Eiswasser für sie und einen Whisky für sich selbst. Er lächelt sie nicht an, scheint sie kaum wahrzunehmen, und trotzdem ist Emiko von Dankbarkeit erfüllt.
Während der letzten Tage hat sie sich in der Bar versteckt und darauf gewartet, dass die Weißhemden sie abholen und kompostieren. Sie verdankt ihr Leben astronomischen Schmiergeldern, und wenn sie Raleigh anschaut, weiß sie, dass er sie wohl kaum jemals gehen lassen wird. Dafür hat er viel zu viel in sie investiert.
Und dann ist Anderson-sama plötzlich da, und für einen Moment fühlt sie sich sicher, fühlt sich, als läge sie wieder in den Armen von Gendo-sama. Sie weiß, dass ihre Konditionierung daran schuld ist, aber sie kann nichts dagegen tun. Sie lächelt, als er sich neben sie setzt, seine Gaijin-Gesichtszüge so fremdartig im phosphoreszierenden Schein der Glühwürmchen und unter all den Thai und den wenigen Japanern, die von ihrer Existenz wissen.