Kanya lässt sich ihren Ekel vor dem Mann nicht anmerken. Holt die Unterlagen hervor und reicht sie ihm. Er nimmt sie zwar an sich, aber dabei belässt er es. Die Akte bleibt ungeöffnet. Er würdigt sie keines Blickes.
»Ja?«
»Da steht alles drin«, sagt sie.
»Wo bleibt der Kniefall? Ihrem Vater gegenüber würden Sie sich ehrerbietiger verhalten, da bin ich mir sicher. Auch den Stadtsäulen gegenüber.«
»Mein Vater ist tot.«
»Und Bangkok wird untergehen. Das sollte Sie nicht daran hindern, mir auf angemessene Weise Respekt zu zollen.«
Kanya muss sich zusammennehmen, um ihn nicht mit dem Schlagstock niederzuknüppeln.
Über ihre offensichtliche Anspannung kann er nur lächeln. »Sollen wir also lieber erst noch ein bisschen plaudern?«, fragt er. »Jaidee war einem Schwätzchen niemals abgeneigt. Nein? An Ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass Sie mich verachten. Kann es sein, dass Sie mich vielleicht für einen Mörder halten? Für einen Kindsmörder gar? Jemand, mit dem Sie keinesfalls das Brot brechen würden?«
»Sie sind ein Mörder.«
»Ihr höchsteigener sogar. Ein Werkzeug, das Ihnen zur Verfügung steht. Was macht das aus Ihnen?« Er betrachtet sie amüsiert. Kanya kommt es vor, als würde der Mann sie mit den Augen aufschlitzen und jedes einzelne Organ hervorholen, um es zu inspizieren: Lunge, Magen, Leber, Herz …
»Ihnen wäre es am liebsten, ich wäre tot«, sagt er mit einem leisen Lächeln. Dann nehmen seine Augen einen leicht wahnsinnigen Ausdruck an, und das zerfurchte Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen. »Wenn Sie mich derart hassen, warum erschießen Sie mich dann nicht gleich hier auf der Stelle?« Als Kanya nicht reagiert, hebt er resigniert die Hände. »Zum Teufel nochmal, Sie sind alle so zurückhaltend! Kip ist die Einzige unter euch, mit der man etwas anfangen kann.« Sein Blick schweift zu dem schwimmenden Mädchen hinüber, und für einen Moment betrachtet er sie selbstvergessen. »Bringen Sie mich doch einfach um. Mir wäre es recht. Ich bin schließlich nur noch am Leben, weil Sie dafür sorgen.«
»Nicht mehr lange.«
Der Doktor sieht auf seine gelähmten Beine und lacht. »Nein. Nicht mehr lange. Und was werden Sie dann tun, sollten AgriGen und Konsorten einen weiteren Angriff starten? Falls Sporen aus Burma sich hierher verirren? Oder über den Seeweg von Indien aus an Ihre Ufer gespült werden? Werdet Ihr dann verhungern, so wie die Inder? Wird Ihnen das Fleisch von den Knochen faulen wie bei den Burmesen? Sie sind den Seuchen immer nur deswegen einen Schritt voraus, weil es mich gibt — mich und meinen verrottenden Verstand. « Er fuchtelt mit den Händen über seinen Beinen herum. »Werden Sie mit mir gemeinsam verfaulen?« Dann zieht er die Decke weg und gibt den Blick frei auf bleich schwärende Gliedmaßen, auf Schorf und Geschwüre, die die faulig blassen Beine überziehen. »Werden Sie auf diese Weise sterben? « Sein Lächeln ist voller Bitterkeit.
Kanya wendet sich ab. »Sie haben es verdient. Es ist Ihr Kamma. Ihr Tod wird qualvoll sein.«
»Karma? Sagten Sie Karma?« Mit seltsam verdrehten Augen und heraushängender Zunge beugt sich der Doktor zu ihr hin. »Und was für eine Art von Karma soll das sein, das Ihr Land an mich und diesen gebrochenen Körper bindet? Was für ein Karma macht es zu Ihrer Pflicht, mich am Leben zu erhalten, ausgerechnet mich?« Er lächelt höhnisch. »Ich denke viel nach über Ihr Karma. Vielleicht ist dies alles Vergeltung für Ihren Hochmut, und es ist die Hybris, die ihren Preis fordert und Sie zwingt, das von mir gefertigte Saatgut zu fressen. Vielleicht sind Sie auch nur das Mittel, um mich zu Erleuchtung und Erlösung zu führen. Wer weiß? Vielleicht werde ich dank meiner Großzügigkeit Ihnen gegenüber als rechte Hand Buddhas wiedergeboren?«
»So läuft das nicht.«
Der Doktor zuckt mit den Achseln. »Ist mir egal. Geben Sie mir einfach jemanden wie Kip zum Ficken. Werft mir eine weitere verlorene Seele zum Fraß vor. Ein Aufziehmädchen. Was auch immer. Ich nehme jeden Körper, den Sie mir vorsetzen. Aber davon abgesehen, lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe es satt, mir über Ihr Land, das ohnehin dem Untergang geweiht ist, den Kopf zu zerbrechen.«
Er wirft die Unterlagen in den Pool. Sie treiben auseinander. Kanya stockt vor Entsetzen der Atem; sie will schon hinterherspringen, kann sich aber gerade noch beherrschen. Sie wird sich nicht von Gibbons ködern lassen. Diese Kalorienmänner sind doch alle gleich. Immer spielen sie ihre Spielchen. Stellen einen auf die Probe. Sie zwingt sich also dazu, den Blick vom Pool und den untergehenden Blättern abzuwenden, und konzentriert sich wieder auf ihr Gegenüber.
Auf Gibbons’ Lippen liegt die Andeutung eines Lächelns. »Nun? Werden Sie baden gehen oder nicht?« Er deutet mit dem Kopf auf Kip. »Meine kleine Nymphe hier wird Ihnen dabei helfen. Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen, Sie dabei zu beobachten, wie Sie sich gemeinsam im Wasser tummeln.«
Kanya schüttelt den Kopf. »Holen Sie sie doch selber wieder heraus.«
»Es erfüllt mich jedes Mal mit Freude, einem Menschen mit Format zu begegnen. Einem Menschen wie Ihnen. Einer unkorrumpierbaren Frau mit Überzeugungen.« Wieder beugt er sich vor, die Augen sind zu Schlitzen verengt. »Jemand, der wirklich in der Lage ist, ein Urteil über meine Arbeit zu fällen.«
»Sie waren ein Mörder.«
»Ich war meiner Zeit immer weit voraus. Was die Menschen mit meinen Forschungsergebnissen anstellen, interessiert mich nicht. Sie tragen eine Federpistole. Es ist wohl kaum die Schuld des Erfinders, dass Sie sich irren können. Dass Sie jederzeit den Falschen damit umbringen könnten. Ich habe Werkzeuge bereitgestellt, die neues Leben ermöglichen. Wenn es Leute gibt, die diese zu anderem Zweck einsetzen, dann befleckt das einzig deren Karma, und nicht meines.«
»Diese Geisteshaltung haben Sie sich von AgriGen gut bezahlen lassen.«
»AgriGen hat mir ein üppiges Gehalt gezahlt, weil der Konzern durch mich reich geworden ist. Meine Gedanken hingegen sind nicht käuflich.« Er mustert Kanya prüfend. »Darf ich also annehmen, dass Sie sich nichts vorzuwerfen haben? Ein weiterer aufrechter Offizier des Ministeriums mit einer Weste so weiß wie Ihre Uniform. Sauber wie ein Sterilisator. « Er beugt sich vor. »Verraten Sie mir eines — sind Sie käuflich?«
Kanya will etwas erwidern, doch ihr fehlen die Worte. Sie kann spüren, wie Jaidee sich ihr nähert. Und lauscht. Sie spürt ein Prickeln auf der Haut. Nur mit großer Anstrengung gelingt es ihr, sich nicht umzudrehen, um über die Schulter nach ihm Ausschau zu halten.
Gibbons muss lächeln. »Natürlich sind Sie das. Sie sind doch alle gleich. Durch und durch korrupt.«
Kanyas Hand fährt zur Waffe. Der Doktor bemerkt es, aber wieder lächelt er nur. »Was jetzt? Wollen Sie mir drohen, mich zu erschießen? Möchten Sie etwa auch von mir bestochen werden? Soll ich Ihnen die Fotze lecken? Oder verlangt es Sie nach meinem nicht ganz echten Mädchen?« Sein kalter Blick hält Kanya gefangen. »Mein Geld haben Sie mir bereits genommen. Mein Leben ist eine einzige Qual und nähert sich dem Ende. Was wollen Sie also noch? Wie wäre es mit meinem Mädchen?«
Kip ist gerade dabei, Wasser zu treten. Erwartungsvoll schaut sie vom Pool zu ihnen beiden auf. Ihr Körper schimmert unter den sich kräuselnden Wellen. Kanya wendet den Blick ab. Der Doktor lacht laut auf. »Tut mir leid, Kip. Wir stellen offensichtlich nicht die Art von Verlockung dar, mit der man sie ködern kann.« Er trommelt mit den Fingern auf der Lehne seines Rollstuhls herum. »Wie wäre es dann mit einem kleinen Jungen? Da gibt es diesen wundervollen Zwölfjährigen, der bei mir in der Küche aushilft. Es wäre ihm bestimmt eine Freude, seinen Pflichten nachzukommen. Das Vergnügen der Weißhemden besitzt immer oberste Priorität. «
Kanya starrt ihn wütend an. »Ich könnte Ihnen alle Knochen brechen.«