Unser Schicksal hängt von einem unberechenbaren Gott ab. Er hilft uns nur, solange es seiner Unterhaltung dient, und wenn wir sein Interesse nicht länger wecken können, wird er die Augen schließen und schlafen.
Eine grauenhafte Vorstellung. Dieser Mann lebt nur noch für seine Gegner, eine global ausgetragene Partie Schach auf dem Feld der Evolution. Einzig getrieben von seinem Ego; ein Riese, der die Angriffe von Dutzenden anderen seiner Art abwehren kann, der sie lachend vom Himmel aus zerquetscht wie kleine Ameisen. Aber alle Titanen stürzen irgendwann, und was steht dem Königreich dann bevor? Kanya bricht der kalte Schweiß aus, wenn sie darüber nachdenkt.
Gibbons beobachtet sie. »Haben Sie noch weitere Fragen an mich?«
Kanya fühlt Panik in sich aufsteigen. »Sind Sie sich bei dieser Sache ganz sicher? Sie wissen bereits, was zu tun ist? Nach nur einem einzigen Blick darauf?«
Der Doktor zuckt mit den Schultern. »Wenn Sie mir nicht glauben, dann versuchen Sie es doch mit Ihren standardisierten Methoden. Tod nach Lehrbuch. Sie könnten auch einfach das gesamte Industriegebiet niederbrennen, damit hätte sich das Problem erledigt.« Er grinst. »Das ist doch ein schlichtes Mittel ganz nach dem Geschmack der Weißhemden. Das Umweltministerium hat immer gerne auf solche Maßnahmen zurückgegriffen.« Er fährt mit der Hand durch die Luft. »In diesem Stadium ist dieser Müll nicht besonders lebensfähig. Gewiss, er mutiert schnell, aber noch ist er äußerst zerbrechlich, und der menschliche Körper ist keinesfalls ein idealer Wirt. Der Erreger ist auf Kontakt mit den Schleimhäuten angewiesen — mit Nasenlöchern, Augen, Anus, auf die Nähe von Blut und Leben. Nur dort kann er sich vermehren.«
»Dann sind wir also außer Gefahr? Es ist nicht schlimmer als Hepatitis oder Fa’gan.«
»Nur mit wesentlich stärkerer Neigung zur Mutation.« Wieder blickt er Kanya direkt in die Augen. »Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten. Der Fabrikant, den Sie suchen, verwendet chemische Bäder. An irgendeinem Ort, der für die Fertigung biologischer Erzeugnisse vorgesehen ist. Eine HiGro-Fabrik. Ein Werksgelände von AgriGen. Eine Aufziehmanufaktur. Etwas in der Art.«
Kanya betrachtet die Doggen. »Könnten Aufziehwesen Überträger sein?«
Nur um sie zu ärgern, beugt er sich zu einem der Hunde hinab und streichelt ihn. »Schon möglich, wenn es sich dabei um Säugetiere oder Vögel handelt. Als Erstes würde ich nach einem Bad suchen. Wenn wir in Japan wären, dann hätte ich auf eine Krippe getippt, doch als Verbreitungsherd kommt praktisch jeder infrage, der mit biologischem Material hantiert.«
»Welche Arten von Aufziehwesen?«
»Das ist keine Frage der Gattung«, schnaubt Gibbons verärgert. »Entscheidend ist vielmehr die Frage, wer dem Erreger inwieweit ausgesetzt ist. Sollten die Aufziehwesen in verseuchten Bädern gezogen werden, könnten sie zum Träger werden. Andererseits kann dieser Unrat, sobald er mutiert, genauso gut im Menschen stecken. Dann müsste die Frage nach der Quelle erneut gestellt werden.«
» Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Gibbons zuckt mit den Achseln. »Wir haben es hier nicht mit dem Zerfall von Uran oder der Geschwindigkeit eines Klippers zu tun. Unmöglich, es vorauszusagen. Wenn das Ungeheuer genügend Futter bekommt, wird es gieriger werden. In einer feuchten Stadt, vollgepackt mit menschlichen Leibern, wird es sich gut ernähren können. Sie können selbst entscheiden, wie besorgt Sie sein sollten.«
Angewidert wendet Kanya sich ab und geht zur Tür.
»Viel Glück!«, ruft Gibbons ihr noch hinterher. »Es wird interessant sein zu beobachten, welcher Ihrer zahlreichen Feinde Sie am Ende umbringen wird.«
Kanya lässt sich nicht provozieren, sondern stürzt hinaus an die frische Luft.
Kip kommt angelaufen. Sie trocknet sich das Haar mit einem Handtuch. »Konnte der Doktor Ihnen weiterhelfen?«
»Ich denke, ich weiß jetzt genug.«
Kips Lachen gleicht einem leisen Zwitschern. »Das habe ich früher auch gedacht. Aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass er beim ersten Zusammentreffen niemals alles preisgibt. Er lässt wichtige Fakten aus. Entscheidende Informationen. Er hat es gern, wenn jemand zu Besuch kommt.« Als sie Kanyas Arm berührt, muss diese sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Doch Kip hat die unwillkürliche Reaktion bemerkt. Sie lächelt leise. »Er mag Sie. Er hätte gerne, dass Sie wiederkommen. «
Kanya erschauert. »Dann wird er wohl enttäuscht werden. «
Kips klarer Blick bleibt fest auf Kanya gerichtet. »Ich hoffe, dass Sie nicht allzu bald sterben. Ich mag Sie nämlich auch.«
Als Kanya das Grundstück verlässt, fällt ihr Blick auf Jaidee, der am Meeresrand steht und in die Brandung schaut. Als hätte er ihre Augen im Rücken gespürt, dreht er sich um und lächelt sie an, bevor er sich schillernd in Luft auflöst. Ein weiterer ruheloser Geist. Sie fragt sich, ob es Jaidee jemals möglich sein wird, wiedergeboren zu werden, oder ob er sie stattdessen weiterhin verfolgen wird. Sollte der Doktor Recht haben, dann wartete er vielleicht auf einen Körper, der keinerlei Seuchen fürchtet — ein Geschöpf, das erst noch gezeugt werden muss. Vielleicht besteht seine einzige Hoffnung auf Reinkarnation in der seelenlosen Hülle eines Aufziehkörpers.
Kanya erstickt diesen Gedanken im Keim. Was für eine lästerliche Vorstellung. Sie ersetzt sie durch ein Bild von Jaidee, der als Himmelswesen an einem Ort lebt, an dem Rostwelke und Aufziehwesen keinen Platz haben. So wäre er wenigstens von dem Seelenschmerz befreit, die Welt, die er so tapfer verteidigt hat, von Aufziehwesen, dieser geifernden Masse eines neuartigen Schöpfungserfolgs, überrannt zu sehen, auch wenn er dann niemals die höchste aller Stufen, die eines Buddha oder des Nibbana, der Erleuchtung, erlangen sollte.
Jaidee ist tot. Vielleicht ist das allem vorzuziehen, was diese Welt noch zu bieten hat. Wenn sie sich eine Federpistole in den Mund stecken und abdrücken würde, dann wäre sie glücklicher als jetzt. Jedenfalls, wenn sie nicht so ein großes Haus besitzen würde und kein von Verrat verunreinigtes Kamma . . .
Kanya schüttelt den Kopf. Wenn überhaupt noch irgendetwas sicher war, dann dies: dass sie hier auf der Erde ihre Pflicht zu erfüllen hatte. Ihre Seele würde ohne Zweifel wieder in diese Welt wandern, im besten Fall in einen Menschen hinein, oder, wenn es schlecht für sie ausging, vielleicht in einen Hund oder eine Küchenschabe. Jede ungeklärte Angelegenheit, die sie hier zurückließ, würde sie immer wieder einholen. Das war schon allein aufgrund ihrer verräterischen Handlungen vorprogrammiert. Sie muss diesen Kampf weiterführen, bis ihr schlechtes Kamma endlich getilgt ist. Sich in Selbstmord zu flüchten, wäre nur ein Aufschub des immer gleichen Problems, dem sie sich dann vielleicht in noch schlimmerer Form zu stellen hätte. Für jemanden wie sie gab es kein Entkommen.
29
Trotz all der Weißhemden und trotz der Ausgangssperre überschüttet Anderson-sama sie geradezu mit Aufmerksamkeiten. Fast scheint es, als hätte er etwas gutzumachen. Doch immer, wenn Emiko Bedenken wegen Raleigh äußert, schenkt ihr Anderson-sama nur ein rätselhaftes Lächeln und sagt ihr, sie solle sich keine Sorgen machen. Alles wäre im Fluss. »Meine Leute sind bereits unterwegs«, sagt er. »Schon bald wird sich alles ändern. Keine Weißhemden mehr.«