Выбрать главу

Robert Charles Wilson

Bios

Für Sharry,

die mir zur Seite stand

Prolog

Der Regler ruhte tief im Oberarm des Mädchens, ein blasses Ei in einem Nest aus Kapillargefäßen.

Mit dem blutstillenden Skalpell trug Anna Chopra vorsichtig das Gewebe ab, Schicht um Schicht. Ihre kleinen, geschickten Hände wollten zittern. Sie zwang sie zur Ruhe.

Das war Sabotage, keine Frage. Zu diesem chirurgischen Eingriff war sie nicht befugt; schlimmer noch, sie vergriff sich an einem Instrument des Kartells. Sie brach das Gesetz, vielleicht sogar ihren hippokratischen Eid.

Sie war mit dem bewusstlosen und ruhig gestellten Mädchen allein, was die Versuchung nur größer gemacht hatte. In jedem OP auf der Erde wäre sie von Kollegen und Studenten umringt gewesen. Auf der Erde war man immer umringt. Hier war sie zur Zeit nur von stummen Apparaten und chirurgischen Instrumenten umgeben, die an spiralförmigen Leitungen in der Fast-Schwerelosigkeit baumelten. Kein Publikum, folglich keine Zeugen: auf Anna Chopra war Verlass, so oder ähnlich dachte das Kartell.

Vor Jahren war der Thymostat im Arm des Mädchens installiert worden. Er hatte einwandfrei funktioniert, und er tat es immer noch. »Thermostat der Seele«, hatte ihr Professor in Kalkutta den einfachen Bioregler genannt. Im Grunde handelte es sich um eine künstliche Drüse, die das Blutbild überwachte und je nach Bedarf Neurotransmitter und Hemmstoffe synthetisierte: um beispielsweise Stimmungsschwankungen auszugleichen, die Aufmerksamkeit wachzuhalten und Müdigkeit zu unterdrücken. Wie die meisten terrestrischen Techniker und Führungskräfte trug auch Anna Chopra einen Thymostaten.

Doch dieses Mädchen — eigentlich eine junge Frau, die nur aus der Warte von Annas siebzig Jahren wie ein Kind wirkte —, diese Zoe Fisher war etwas anderes. Zoe Fisher war ein Geschöpf des Kartells, genauer: der Abteilung für Devices & Personnel[1]. Man hatte sie gezüchtet und für ihre Arbeit in der fernen Welt von Isis konditioniert. Sie war im Grunde eine menschliche Maschine. Ihre Bioregulation war ungemein präzise; Anna zweifelte nicht daran, dass man jeden schlechten Traum des Mädchens und jede seiner kurzen Verzückungen überwacht, berechnet und durch diesen kleinen aber komplexen Thymostaten gedämpft hatte, und das schon lange bevor sie sprechen gelernt hatte.

Der Bioregler hatte Ranken — Sonden und Träufler — in die Armarterie und die ulnaren Kollateralarterien geschickt. Anna Chopra trennte sauber und professionell die Verbindungen und sah zu, wie die Überbleibsel sich vernähten und mit der pulsierenden Wand der Arterie verschmolzen. Den Thymostaten selbst — groß wie ein Rotkehlchenei und prall vor Blut — warf sie in die Öffnung des Müllschluckers. Vereinzelte Bluttröpfchen nahmen Kurs auf eine gurgelnde Entlüftung.

Wozu dieser kleine Sabotageakt? Wieso gerade jetzt? Vielleicht, weil der ewige Gehorsam in ihr ein Gefühl von Schalheit und Leere hinterlassen hatte. Vielleicht, weil dieses Mädchen sie an ihre Schwestern erinnerte, von denen drei an die staatlichen Bordelle von Madras verkauft worden waren — eine Folge familiärer Finanzkrisen.

Bordellinsassen waren glücklich, hieß es. Sie waren bestens geschult und erschöpfend bioreguliert.

Die junge Zoe Fisher war wahrscheinlich nie einem Bordell zu nahe gekommen. Aber sie war trotzdem eine Sklavin, statt eines Thymostaten hätte sie ebenso gut Fußschellen oder ein eisernes Halsband tragen können. Seit Anna Chopra die Erde verlassen hatte, war sie vielen Technikern aus den Kuiper-Republiken[2] begegnet: sie trugen keinerlei Bioregler und schon bald hatte sie die Leute um ihre Spontaneität, um ihre reiche Palette an Stimmungen und um ihre Derbheit beneidet. Wer weiß, vielleicht wäre sie auch so geworden, wenn man sie gelassen hätte. In einem anderen Leben.

Sollte das Kartell herausfinden, wieso eine seiner Marionetten ohne Fäden erwachte.

Oh, höchstwahrscheinlich würde man den Diebstahl bemerken und einen neuen Regler installieren. Vielleicht aber auch nicht. Zoe Fisher war unterwegs nach Isis — dem entlegensten Außenposten menschlicher Neugier, weit jenseits der abgeschiedenen Kibbuzim der Kuiper-Republiken. Neuland, wo die Macht des Kartells ihre Grenzen fand.

Anna Chopra schloss die Wunde und versiegelte sie mit einem Gel, reich an Nanobakterien zur Regeneration des Gewebes. Nach getaner Sabotage — und voller Gewissensbisse — ging Anna an ihre eigentliche Arbeit, drehte den Körper der Bewusstlosen in seiner Aufhängung und schnitt in die Bauchmuskulatur, um einen erschöpften Blutfilter zu ersetzen. Zoe vereinte eine Menge innovativer Technik in ihrem Körper, hauptsächlich Immunsystemverstärker, wie Anna sie nie zuvor gesehen hatte. Rotgeäderte, weiße Biomodule, die an der Bauchaorta nisteten wie Insekteneier auf Wolfsmilch. Anna ignorierte diese mysteriösen Vorrichtungen; sie ersetzte den ausgedienten Nierenfilter und verschloss das Muskelgewebe mit einer weiteren Portion Gel.

Und fertig war sie. Sie befahl dem Narkostaten, einem schwarzen, ungeschlachten Roboter der pflegeleichten Zunft, Zoe in einen Zustand natürlichen Schlafs zu versetzen und den schmerzstillenden Tropf beizubehalten. Schließlich zog sie die Handschuhe aus und trat von der Aufhängung zurück.

Jetzt begannen ihre Hände wirklich zu beben. Annas siebzig Jahre waren im Schnitt etwa die halbe Lebensspanne eines Seniormanagers oder eines Adligen, während sie selbst nur den Status eines Technikers dritter Klasse besaß und ihre Telomerasen rapide zur Neige gingen. Noch bevor diese Dekade zu Ende war, würde sie laufbahngerecht in einem geriatrischen Hospiz auf der Erde landen. Wo ihre Hände zittern durften — derweil sie, Anna, auf ein degeneratives Leiden wartete oder auf die Zuteilung von Sterbehilfe, um ein sinnvolles und vollkommenes Leben als gute Bürgerin des Kartells und Dienerin des Adels zu beenden.

Abgesehen von gelegentlichen Trotzreaktionen.

Unwillkürlich warf sie einen Blick über die Schulter, doch es gab keine Zeugen für ihre kriminelle Handlung. Das kleine, kometenartige Objekt — man nannte es Phoenix — war zur Zeit so gut wie unbewohnt. Der Higgs-Transfer stand bevor und bis auf ein paar Unverzichtbare hatten alle Phoenix verlassen. Auch greifbare Beweise würde es nicht geben. Schon bald würde von Phoenix nichts weiter übrig sein als ein paar verstreute radioaktive Partikel und eine Prise Cherenkov-Strahlung.

Glut und Asche. Der Gedanke war irgendwie tröstlich. Ihr Herz begann wieder ruhiger zu schlagen. Alles, was blieb, sagte sich Anna, waren Glut und Asche, Funken und Staub.

Es waren die Kuiper-Techniker, die diesen kleinen Brocken ›Phoenix‹ getauft hatten. Auch die kleinste Welt, beharrten sie, sollte zu Lebzeiten einen Namen haben.

Phoenix rollte oberhalb der Ekliptik und weit jenseits der Neptunbahn um die Sonne — durch die solare Wüste sozusagen. Es dauerte nur noch Stunden, bis Phoenix auf die denkbar dramatischste Weise sterben würde. Und mit Phoenix würde auch Zoe Fisher aus dem Sonnensystem verschwinden.

Die Techniker, die Zoe für den Transfer rüsteten, schienen gewaltigen Respekt vor ihr zu haben, obwohl man diesen Akt schon unzählige Male durchgespielt hatte. Respekt zumindest vor den Kräften, denen Zoe in Kürze unterworfen sein würde. Am liebsten, dachte Zoe, würden sie mit ihr dasselbe tun, was die Kampfpiloten im zwanzigsten Jahrhundert mit ihren Raketengeschossen getan hatten: sie signieren.

Aber sie war kein Geschoss. Sie war schlicht und einfach Frachtgut. Fünfeinhalb Fuß und hundertdreißig Pfund Fracht. Fracht wie die drei anderen Menschen, ein paar hundert geklonte Mäuse- und Schweineembryonen und allerhand Vorräte, die auch nach Isis sollten. Nicht lange und man würde alles in die Katakomben der Higgs-Kugel laden, die im gefrorenen Kern von Phoenix wartete.

вернуться

1

Gerät & Personal

вернуться

2

Der Kuiper-Gürtel ist eine scheibenförmige Region hinter der Umlaufbahn des Neptun und enthält kleine eisige Körper. Man hält ihn heute für die Quelle der Kometen mit kurzen Umlaufzeiten.