Und draußen lauerte der Tod. Realer Tod. Die Ergriffenheit im Raum war erschreckend. Dieter Franklin weinte mit gesenktem Kopf; Elam Mather und andere machten keinen Hehl aus ihren Tränen.
Zwei Geheimnisse, dachte Zoe. Isis und Trauer. Den Planeten kannte sie besser. Was würde sie empfinden, falls jemand starb, der ihr nahe stand? Doch es gab niemanden, der ihr nahe stand. Hatte nie jemanden gegeben. Bis auf Theo, streng und distanziert wie ein Adler, ihren Lehrer und Retter. Was, wenn da draußen Theos Leichnam verbrannt würde? Würde sie dann auch weinen? Als sie jung war, hatte sie oft geweint, vor allem während der nur dunkel erinnerten Zeit in dem Teheraner Findelheim. Von dem Theo sie erlöst hatte. Ohne Theo… ja, ohne Theo wäre sie verloren.
Frei, raunte ein verräterischer Teil von ihr.
Der Gedanke war beunruhigend.
Tam Hayes, groß gewachsen und dunkel in seiner Yambuku-Montur, verlas einen kurzen ehrenden Nachruf. Dann sprach Ambrosic, ein junger Biochemiker und jetzt, da Mac nicht mehr da war, der letzte Reformierte Mormone in Yambuku, ein formelles Gebet für den Toten.
Auf ein verborgenes Signal hin übergossen die beteiligten Roboter die Bahre mit Kohlenwasserstoffverbindungen und setzten sie mit einer Stichflamme in Brand. Ein Außenmikrophon übertrug das Geräusch mit entsetzlicher Reinheit, das WUSCH der Entzündung und danach das träge Knistern von brennendem Holz.
Die Hitze trug die Asche von Macabie Feya hoch in den isischen Sonnenschein. Wind trug den Rauch mit sich fort. Mac Feyas Phosphate würden den Boden düngen, dachte Zoe. Jahreszeit um Jahreszeit, Atom um Atom würde die Biosphäre sich seiner bemächtigen.
Zoe hatte man vor allem wegen des MLA-Projekts[10] geschickt, doch bis zu dem Tag, da sie die Station verlassen würde, gehörte sie zur Belegschaft und musste sich nützlich machen. Sie war weder Mikrobiologe noch Ingenieur, aber es gab eine Menge schlichter Arbeiten zu erledigen — Filterwechsel, Lagerinventur, Schreibkram — und sie hielt sich für all diese Aufgaben zur Verfügung. Und mit jedem Tag, während der Schock von Mac Feyas Tod verebbte, wurde sie… was? Wenn nicht ein Mitglied der Yambuku-Familie, dann doch ein willkommenes Accessoire.
Heute, eine Woche nach der Bestattung, hatte Zoe acht Stunden mit der Lagerinventur zugebracht, was trotz der hilfreichen Roboter eine Menge Körpereinsatz bedeutete. Nach einer stillen Mahlzeit in der Mensa zog sie sich in ihre Kabine zurück. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als heiß zu duschen und früh ins Bett zu gehen… doch kaum hatte sie die Wassertemperatur gewählt, als Elam Mather anklopfte.
Elam trug Feierabendkleidung, lockere, gelbbraune Shorts mit Bluse. Das freundliche Lächeln schien zu meinen, was es sagte. »Ich habe hier den Dienstplan für morgen. Dachte, Sie würden gerne mal reinschauen. Oder gerne mal reden. Störe ich?«
Zoe bat sie herein. Die Kabine war klein, eine Bettrolle und ein Pult und eine Wand mit Bildschirmfunktion. Etwa einmal im Monat fädelte die Erde komprimierte terrestrische Unterhaltung durch die Partikelpaar-Verbindung. An diesem Abend saß der größte Teil der Belegschaft im Gemeinschaftsraum und sah sich die Novosibersk Brevities an. Zoes Bildschirm blickte durch eine Außenkamera, und das einzige Schauspiel, nach dem ihr zumute war, war die verträumte Sichel des kleinen isischen Mondes, die vor den südlichen Sternen kreuzte.
Elam trat ein, wie sie immer eintrat: raubeinig, Arme herunterhängend, groß selbst nach Kuiper-Maßstäben. »Ich mach mir nicht viel aus leichter Unterhaltung«, sagte sie. »Sie vermutlich auch nicht.«
Zoe wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Elam pochte nicht auf ihren Rang, war aber eine Schlüsselfigur in Yambuku, die nur noch Tam Hayes über sich hatte. Zu Hause wäre alles ganz klar gewesen. Juniormanager hatten zu tun, was Zoe sagte, und Zoe hatte zu tun, was Seniormanager sagten — und alle miteinander hatten sich der Familie zu fügen. So einfach war das.
Der Dienstplan bestand aus mehreren Blättern, Elam ließ sie aufs Pult fallen. »Ist wie ausgestorben, wenn das Unterhaltungspaket ankommt.«
»Ich glaube, diesmal ist Tanz angesagt.«
»Ah-ah. Sie scheinen genauso begeistert wie ich. Ich bin nun mal ein altes Kuiper-Fossil. Wo ich herkomme, da wird selbst getanzt, nicht bloß zugeguckt.«
Zoe wusste keine Antwort. Sie tanzte nicht.
Elam warf einen Blick auf den aktiven Wandschirm. Zoe fuhr ihn mit maximaler Auflösung; man hätte meinen können, die Kabinenwand habe sich aufgelöst und lasse die isische Nacht herein. Die Grenzlichter von Yambuku erfassten die nächsten Bäume und stellten sie taghell vor den samtschwarzen Wald. »Nichts für ungut, Zoe, aber Sie sind manchmal wie ein Gespenst. Sie sind zwar hier, aber ihre Gedanken sind draußen.«
»Darauf bin ich trainiert.«
Elam runzelte die Stirn und sah beiseite.
Zoe setzte hinzu: »Hab ich etwas Falsches gesagt?«
»Wie bitte? Oh — nein, Zoe. Nichts Falsches. Wie gesagt, ich bin nur ein altes Kuiper-Fossil.«
»Sie haben meine Personalakte gelesen«, riet Zoe.
»Zum Teil. Gehört zu meinem Job.«
»Ich kann mir denken, wie sich das liest. Einzige Überlebende einer klonalen Gruppe, bestimmt für den Dienst auf Isis, drei Jahre lang verschollen in einem Findelheim, leichte Aversion gegen menschlichen Kontakt. Launisch und, wie ich vermute, sehr terrestrisch. Aber ich bin…«
Sie wollte sagen, nicht anders als jeder andere. Doch das wäre gelogen gewesen, oder? Selbst auf der Erde hatte sie ein bisschen abseits gestanden. Das hatte einfach zur Ausbildung gehört.
»… auf dem besten Wege, mich hier einzuleben.«
»Ich weiß«, sagte Elam. »Und ich weiß das zu schätzen. Es tut mir Leid, wenn wir schlechte Eisbrecher waren. Es lag auch an dem Unfall mit Mac, mit Ihrem Lebenslauf hat das nichts zu tun.«
Zoe registrierte das Adverb. Auch. Das war fair. Die meisten Wissenschaftler in Yambuku stammten aus dem Kuiper-Gürtel. Das alte Commonwealth Settlement Ministry[11] hatte die ersten Habitate auf den Kuiperwelten mit Bürgern besiedelt, die genetisch für eine langfristige Isolation und die klaustrophobische Enge in den Wasser-Bergwerken konditioniert waren. Unglücklicherweise war der Sequenz-Tausch fehlerhaft gewesen. Und der Fehler im veränderten Genom war unentdeckt geblieben, weil niemand mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte: eine spät auftretende neurologische Degeneration, eine angeborene Plaquebildung an der Nervenhülle, schwer aufzuhalten, geschweige denn zu heilen. Diejenigen aus dieser Siedlergeneration, die die Unbilden der Pionierzeit überlebt hatten, waren weit weg von der Erde in unzulänglichen klinischen Einrichtungen schreiend gestorben. Ein hastiges Programm, das den Sequenzfehler flickte, hatte die Kinder dieser Generation vor demselben Schicksal bewahren können. Die meisten jedenfalls.
Kuiper-Veteranen würden sagen, dass sie weniger die genetische Konditionierung als solche fürchteten als vielmehr das plumpe terrestrische Herumpfuschen an den Genen. Doch die Familiengeschichte machte das Ganze zu einer kitzligen Angelegenheit. Zoe war ein zweckbestimmter Klon, zugeschnitten auf die Belange des Kartells. Ihre Kollegen aus dem Kuiper-Gürtel mussten das abscheulich finden.
»Ich will damit sagen, Zoe, dass all das kaum noch eine Rolle spielt. Jetzt, wo Sie einer von uns sind. Ob Sie wollen oder nicht. Wir hocken hier am Grund eines feindseligen biologischen Ozeans und Yambuku ist eine Bathysphäre. Ein Leck, und wir gehen alle hops. In so einer Umgebung ist man aufeinander angewiesen.«