Zoe nickte. »Ich verstehe. Ich tue mein Bestes, Elam. Aber ich… ich kann es nicht gut mit anderen.«
Elam berührte sie am Arm und Zoe zwang sich, nicht zurückzuzucken. Die Hand der Älteren war warm, trocken und rau.
»Was ich damit sagen will, Zoe: Wenn Sie eine Freundin brauchen, auf mich können Sie zählen.«
»Danke, Elam. Und es tut mir Leid, wenn es unverschämt klingt. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Aber… ich möchte keine Freundin.«
Elam lächelte. »Ist schon okay. Von ›möchten‹ war keine Rede.«
Die Zeit verging und mit jedem Tag kam sie ihrer Befreiung aus der Enge von Yambuku um einen Schritt näher.
Draußen wich eine regnerische Woche hellem Sonnenschein. Die Werkstatt legte letzte Hand an Zoes Außenanzug, kopierte seine Dateien, prüfte seine Kapazitäten und checkte die Funktionsliste Punkt für Punkt durch.
Zoe übte sich in Geduld, lernte die Vornamen der sechzehn gegenwärtig in Yambuku lebenden Menschen auswendig. Von diesen kam sie am besten mit Elam Mather, Tam Hayes, den Werkstatt-Ingenieuren Tia, Kwame und Paul und dem Planetologen Dieter Franklin aus.
»Wir stehen kurz vor dem Stapellauf unserer neuen Technik«, sagte Tam Hayes zu ihr. »Die Techniker sind beeindruckt. Wir sollten uns auf etwas Neues gefasst machen, das ist weit mehr als neu.«
Zoe schob einen Frachtkarren durch die lange, fensterlose Enge des Süd-Quartiers. Die Räder rasselten auf dem Boden aus poliertem Stahl. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier ausgesehen hatte, als die Roboter und Turing-Konstrukteure alles zusammengebaut hatten. Eine Katakombe aus Metall, an der sich mechanische Spinnen zu schaffen machten, derweil Stahl- und Metacarbon™- Platten an ferngelenkten Fallschirmen aus dem Orbit fielen.
Laut Hayes war es heute vorwiegend sonnig und warm. Etwas, das man von der zeitlosen Monotonie dieses Korridors nicht sagen konnte. »An solchen Tagen«, sagte Hayes, »da schicken wir häufig die Libellen raus.«
Zoe sah von der Arbeit auf.
»Interessiert?«, fragte Hayes.
Und ob.
»Ihre Akte sagt, Sie kennen sich mit diesen Sensorien aus. Ist das korrekt?«
Zoe passte das Geschirr ihrer Kopfform an. »Ja.«
»Und Sie kennen das Gelände?«
»Aus Simulationen.«
»Okay. Nennen wir es Testausflug. Sie lassen mich nicht aus den Augen, zu keiner Zeit, und Sie tun, was ich sage.«
Der Raum, von dem aus die Telepräsenz gesteuert wurde, war nicht größer als Zoes Kabine. Zoe war sich der Tatsache bewusst, dass Tam Hayes neben ihr saß. Im ultrareinen Innern von Yambuku roch alles viel intensiver. Sie konnte ihn riechen — ein sauberer Geruch, Seife und gewaschene Baumwolle und sein persönlicher, unverkennbarer Geruch nach… Frühlingsheu. Und leider auch sich selbst: nervös und angespannt. Sie aktivierte das Kopfgeschirr und der Raum floh aus ihrem Bewusstsein — aber nicht die Gerüche.
Hayes aktivierte die Fernsteuerung, und aus einem Hangar an der Peripherie des Shuttledocks erhoben sich zwei Libellen in den windstillen Mittag.
Die zarten Flügel der Telesensorien glitzerten vor photoelektrischen Chitonzellen[12], mikroskopisch kleinen Prismen. Der lange, dünne Rumpf abwärts gekrümmt, um Stabilität zu halten, derweil die ›Tierchen‹ auf der Stelle traten.
Zoe, den Kopf im Geschirr und die Hände an den Kontrollen, sah, was ihr Telesensorium sah: Yambuku von oben und dahinter den bewaldeten unendlich tiefen, weiten Senkungsgraben, einen lückenlosen Baldachin aus Grün, gesprenkelt mit zarten Wolkenschatten.
Ihr Herz hämmerte. Wieder war eine Wand gefallen. Zwischen ihr und Isis standen viele Wände, doch mit jedem Tag weniger und bald keine einzige mehr; bis auf die unempfindliche Membran ihres Außenanzugs. Die beiden Domänen, ihr terrestrisches Ökosystem aus Blut und Gewebe und die unergründliche isische Biosphäre würden sich so nahe kommen, wie es die Technik erlaubte. Sie sehnte sich, ihre neue Welt zu berühren, die fremde Brise auf der Haut zu spüren. Das Gefühl war verblüffend intensiv.
Tam Hayes redete. Er saß neben ihr an der Konsole, doch seine Stimme schien aus dem strahlend blauen Himmel zu tönen. »Wir wollen nichts überstürzen. Bleiben Sie mir auf den Fersen. Wenn Sie meine Libelle aus den Augen verlieren, benutzen Sie die optische Zielerfassung. Und haben Sie keine Scheu zu fragen. Fertig, Zoe?«
Dämlicherweise nickte sie. Doch mit dem Kopf im Geschirr konnte er lediglich ihre Libelle sehen, ein Mikrogerät, das dem seinen aufs Haar glich. »Fertig«, sagte sie mit Verspätung. Die Hand am Steuerknüppel zitterte. Das hochempfindliche Telesensorium vibrierte im Sonnenlicht.
»Auf dreitausend Meter fürs Erste. Damit Sie einen Überblick bekommen.«
So rasch, wie er es sagte, schraubte sich Hayes Libelle vertikal in den Himmel. Auf Anhieb schraubte Zoe ihre eigene Libelle nach oben, klebte nicht an ihm, hielt aber Schritt und zeigte, was sie konnte. In der oberen linken Ecke ihres Kopfgeschirrs schillerte die rubinrote Höhenanzeige.
Bei dreitausend Metern hielten sie inne. Hier oben war es ziemlich windig, und die Libellen tanzten auf und ab wie schwebende Möwen.
»Höhe ist die beste Verteidigung«, sagte Hayes. »Diese Tierchen sind teuer und hier oben gibt es keine Insektenfresser. Am gefährlichsten sind Vögel. Jeder große Vogel innerhalb eines Kilometers löst einen Alarm aus, zumindest unter freiem Himmel. Unten im Wald ist das schon schwieriger. Wenn es irgend geht, halten Sie Abstand von Bäumen und bleiben Sie mindestens fünf oder sechs Meter über dem Boden. Grundsätzlich wachsam bleiben und die Anzeigen im Auge behalten.«
Das alles wusste sie. »Wohin des Wegs?«
»Zur Gräberkolonie. Wohin sonst?«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
Zoe mochte diesen Mann.
Die Libellen übertrugen nur audiovisuelle Informationen. Sie flogen westwärts, aber Zoe hatte nicht das Gefühl zu fliegen. Ihr Sitzfleisch spürte nach wie vor den Widerstand des Stuhls, sie spürte nach wie vor ihre solide Präsenz in der Kontrollkabine. Doch die Bilder, die sie sah, waren hochauflösend, von großer Farbtiefe und dreidimensional. Und sie konnte deutlich hören, was die Libellen hörten: in dieser Höhe nur ein sanftes Brausen der Luft; tiefer vielleicht das Rieseln von Wasser, die Schreie von Tieren.
Zusammen flogen sie über das glänzende Band des Copper-River, so getauft von Hayes’ Vorgänger nach dessen Kuiper-Clan. An den trägen Tümpeln des sandigen Ufers hatten sich große Vögel und kleine Raubtiere versammelt, um zu trinken. Sie entdeckte eine Herde von Epidonten, die sich im seichten Wasser sonnten. Hinter dem Fluss wuchs der Wald wieder lückenlos zusammen, Samen- und Sporenbäume wogten wie ein einziges grünes Laken auf die Ausläufer des Copper-Gebirges zu.
»Alles ist so vertraut«, sagte Zoe leise.
»Könnte man meinen.« Die Stimme von Hayes kam aus dem leeren Himmel neben ihr. »Fast wie äquatoriale Erde, aber nur aus dieser Höhe. Man darf nicht vergessen, dass Isis eine total andere Evolution durchgemacht hat. Die Arbeit der letzten sechs Monate legt nahe, dass das Leben hier sehr viel länger einzellig geblieben ist als auf der Erde. In terrestrischen Organismen ist die Zelle eine Proteinfabrik in einer Proteinfestung. Isische Zellen sind das auch, nur besser geschützt, tüchtiger und viel komplexer. Sie synthetisieren ein schwindelerregendes Arsenal an organischen Stoffen und existieren unter viel unwirtlicheren Bedingungen. Auf makroskopischer Ebene — bei vielzelligen Organismen — ist der funktionale Unterschied geringer. Es kommt auf die Komplexität an. Ein Fleischfresser ist ein Fleischfresser und der Vergleich mit Pflanzenfressern ist kein Kunststück. Nimmt man die mikroskopische Ebene, die fundamentale Biosphäre des Planeten, dann kommt einem Isis viel, viel fremder vor. Und gefährlicher.«