Zoe sagte: »Ich meinte die Landschaft. Ich bin hier schon so oft geflogen, in unzähligen Simulationen.«
»Simulationen sind Simulationen.«
»Realitätsnahen Simulationen.«
»Trotzdem. Ist schon was anderes, wenn die Landschaft wirklich lebt.«
Lebt, dachte Zoe. Ja, das war der Unterschied. Selbst die besten Simulationen waren so etwas wie Karten. Das hier war das wirkliche Territorium, beweglich, veränderlich. Ein Abschnitt im uralten Dialog zwischen Leben und Zeit.
Hayes lotste sie tiefer hinunter. Vor ihr blitzte seine Libelle, brillanthell in der Mittagssonne. Voraus die Ausläufer der Gebirgskette, bewaldete Hügel, gefurcht von Bächen. Während das Land anstieg, wechselte der Wald von wasserliebenden Rebstöcken, Kelchpflanzen und Fassbäumen zu kleineren Fettpflanzen, wie sie im steinigen Hochland gediehen. Immer wieder kleine Inseln, die an Aloe Vera erinnerten, niedrige Pflanzen mit fleischigen, smaragdgrünen Sternen. Zoe deklamierte genüsslich die lateinischen Namen, hätte es aber begrüßt, wenn die Vegetation die gemeinen Namen aus einer isischen Sprache hätte beziehen können, wenn es denn je eine isische Sprache gegeben hatte. Ob man die Gluck-und-Murmel-Vokalisationen der Gräber wirklich als ›Sprache‹ bezeichnen durfte, war eine der Fragen, denen Zoe auf den Grund gehen wollte.
Die Gräberkolonie sah von hier oben exakt so aus wie in den Simulationen: eine Ansammlung von gefleckten Erdhügeln in einer ausgetrampelten Lichtung. Dazwischen die verkohlten Reste von Feuerstellen. Hayes flog einmal um die Kolonie herum, ehe er sich langsam nach unten schraubte, nicht ohne den Himmel im Auge zu behalten; die Abfallhaufen der Gräber mochten Raubvögel anlocken. Doch die Luft war rein. Zoe setzte sich impulsiv vor ihn. Was Hayes sich gefallen ließ. Sie achtete darauf, die unsichtbare Leine nicht zu überdehnen.
Sie wollte die Gräber sehen.
Über die Partikelpaar-Verbindung waren nur unbewegte Bilder zur Erde gelangt. Sie hatte Fotoserien gesehen und nicht nur das: Bilder von einer Teleautopsie an einem Gräber, der von einem Raubtier getötet und dessen Leiche von Robotern geborgen und von chirurgischen Telesensorien seziert worden war. Ein paar tiefgefrorene blaurote Proben befanden sich noch im Glove-Box-Archiv von Yambuku. Zoe hatte sich Tonaufzeichnungen von den Vokalisationen angehört und nach Anhaltspunkten für eine interne Grammatik gefahndet. (Die Ergebnisse waren bestenfalls widersprüchlich.) Sie kannte die Gräber so gut wie ein externer Beobachter sie kennen konnte. Aber leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte sie noch keinen.
Hayes schien ihre Erregung zu verstehen, ihre Ungeduld. Seine Libelle schwebte sichernd in ihrer Nähe. »Bloß nicht zu nahe, Zoe, und achten Sie auf Ihre Anzeigen.«
Die Gräber waren die am meisten verbreitete Wirbeltierspezies auf Isis. Sie waren auf den beiden größeren Kontinenten und etlichen Inselketten vertreten; die Siedlungen waren häufig so komplex, dass man sie aus dem Orbit erkennen konnte.
Sie errichteten Erdhügel und höhlten Kalkstein aus. Ihre Technik war primitiv: Flintklingen, Feuer und Speere. Ihre Sprache — wenn es denn eine war — war nicht minder primitiv. Sie schienen sich durch Vokalisieren zu verständigen, aber nicht oft und fast nie im Austausch — das heißt, sie signalisierten, aber sie unterhielten sich nicht.
Jedes gründlichere Studium der Gräber wurde durch die toxische Biosphäre des Planeten behindert; es war unmöglich, mit den Gräbern unmittelbar in Kontakt zu treten; auch Telesensorien und Roboter konnten nicht herausfinden, was in den tief durchtunnelten Erdhügeln passierte, in denen die Gräber einen Großteil des Tages verbrachten.
Als Zoe an den Baumwipfeln vorbeitauchte, brach eine Kakophonie von Vogelrufen über sie herein. Von den oberen Ästen baumelten Blüten, die wie riesige, blaue Orchideen aussahen, keine Blumen, sondern eine konkurrierende Spezies, ein saprophytischer Parasit, dessen Staubblatt wie ein pinkrosa Finger aus der Blüte ragte, besetzt mit abertausend kupferroten Pollen.
Sie ließ sich noch tiefer in ein von Schatten und Licht gesprenkeltes Reich sinken, wo sich farnähnliche Pflanzen aus feuchten Spalten zwischen Baumwurzeln entrollten. Nicht zu tief, warnte Hayes, denn von jedem Baumstumpf und aus jedem Loch konnte eine Sonnenechse oder ein Triraptor schnellen, um die Libelle zwischen den Zähnen zu zermalmen. Sie schwebte in dem großzügigen Schattenreich zwischen zwei riesigen Puzzlebäumen, die Flügel leise schwirrend, und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gräberkolonie.
Die Kolonie war alt, wohl etabliert. Nach der letzten groben Zählung lebten hier nahezu hundertfünfzig Gräber. Es gab reichlich Wild, im Westen Obstbäume, und einen klaren Bach, der aus dem Hochgebirge kam und in der Regenzeit fast zum Fluss wurde. Im Westen lag auch eine Wiese aus einem buschigen, goldgelb blühenden Kraut, auf der die Gräber ihre Exkremente hinterließen und ihre Toten begruben. Die Kolonie an sich bestand aus einer Ansammlung von Hügeln aus Steinen und rotem Lehm, jeder Hügel mindestens fünfzig Meter im Durchmesser, überwachsen mit Buschwerk und Pilzgeflecht.
Die Öffnungen waren eng und dunkel, befestigt mit einem betonartigen Material, das aus Lehm oder Kreide, vermengt mit Urin, geknetet wurde.
Zwei Gräber hielten sich auf der Lichtung rings um die Erdhügel auf, kauerten über ihrer Arbeit wie ausgebleichte, weiße Rollasseln. Der eine Gräber unterhielt das Gemeinschaftsfeuer und nährte die Flammen mit Windbruch und getrockneten Blättern. Der andere schabte am Ende eines langen Steckens, eines Speers, und drehte die Spitze immer wieder über dem Feuer. Ihre Bewegungen waren sparsam. Zoe fragte sich, ob sie sich wohl langweilten. Der harte Boden war übersät von Flintsteinen und Faustkeilen.
»Schön sind sie gerade nicht«, sagte Hayes.
Sie hatte ganz vergessen, dass er neben ihr saß. Beim Klang der Stimme fuhr sie zusammen: zu nah, zu intim. Ihre Libelle schwankte ein bisschen.
Einer der Gräber sah kurz auf, schwarze huschende Augen. Er war mindestens fünfzehn Meter entfernt.
»Ich finde schon«, raunte Zoe (wieso raunte sie?).
»Dass sie schön sind, meine ich. Nicht auf abstrakte Weise. Wunderbar funktional, wunderbar zugeschnitten auf das, was sie tun.«
»So kann man es auch sehen.«
Sie zuckte die Achseln, wieder eine unnütze Geste. Die Gräber waren schön, basta. Ob Hayes das nun so oder anders sah.
Eine härtere, strengere Evolution hatte sie geformt. Einer der Gräber richtete sich auf, und Zoe gefiel die Vielseitigkeit, die Isis diesen Wesen mitgegeben hatte, die Vielseitigkeit eines lebendigen Schweizer Offiziersmessers. Aufrecht maß der Gräber anderthalb Meter. Der gewölbte graue Kopf ragte nach Schildkrötenart aus einem fleischigen Kragen. Die schwarzen hoch empfindlichen Augen drehten sich in Kugelfassungen. Die oberen Arme, die Grabarme mit ihren spatenförmigen Fingern, hingen schlaff von den Schultergelenken. Einer von den kleineren Armen packte mit seinen vielgliedrigen Daumen den neuen Speer. Die knorpeligen Bauchlamellen dehnten sich und zogen sich zusammen, wenn der Gräber sich bewegte; er schien für seine Größe zu flexibel, wie ein Riesentausendfüßer.
Der schnabelförmige Mund öffnete sich und entließ eine Reihe von gedämpften Schnalzern. Der Gefährte reagierte nicht. Selbstgespräche?
»Das ist der Alte«, klärte Hayes sie auf.
»Wie bitte?«
»Der mit dem Speer. Wir nennen ihn ›der Alte‹.«
»Die Gräber haben Namen bekommen?«
»Nur wenn sie leicht wiederzuerkennen sind. Der Alte wegen der Schnurrhaare. Lange, weiße Tastorgane. Via Telesensorium waren wir alle schon mal hier, die meisten mehr als einmal, und der Alte macht von Zeit zu Zeit einen Gegenbesuch.«