So rasch, wie seine gepanzerte Montur es zuließ, holte er sie ein. »Zoe! Genug damit. Sie überlasten die Dekontaminierungskammer.«
»Es lebt«, staunte sie. »Das alles lebt! Ich kann es fühlen! Es ist so lebendig wie wir!«
»Worauf ich gesteigerten Wert lege, Zoe.«
Sie grinste und an ihren Füßen sammelte sich eine silbrige Regenpfütze.
Nachdem sie eine halbe Stunde an der Peripherie spazieren gegangen waren, konnte er Zoe schließlich zur Rückkehr überreden. Wieder drinnen, war Zoe bereits mit Duschen fertig, als Hayes sich noch aus seiner Montur kämpfte. Er sperrte sich mit ihr in die Quarantänezelle. Die Dekontaminierung war quälend gründlich und nichts deutete darauf hin, dass ihre Ausrüstungen nicht absolut perfekt funktioniert hatten, doch die Vorschriften in Yambuku sahen einen Tag Isolation vor, derweil Nanobakterien nach etwaigen Infektionen fahndeten.
Zwei Schlafstellen, ein Wandmonitor und ein Spender für Nahrung und Wasser: Quarantäne eben. Zoe streckte sich auf ein Feldbett — so ruhmreich sie im Freien gewesen war, war sie es zwischen diesen kahlen Wänden nicht mehr. Hayes verfasste einen kurzen schriftlichen Bericht für das IOS-Archiv, dann orderte er einen Kaffee.
Zoe blätterte in dem Halbjahresplan, dem Dokument, das Elam ihm schon gezeigt hatte. Hayes versuchte sich Zoe so vorzustellen, wie Elam sie beschrieben hatte, als Retortenbaby von D&P, das man für zwei Jahre in irgendeine barbarische Findelanstalt abgeschoben hatte, zusammen mit ihren Klongeschwistern, die alle nicht überlebt hatten.
Was er durchgemacht hatte, war nicht ganz so dramatisch gewesen, aber er wusste sehr wohl, was Exil und Einsamkeit bedeuteten. Hayes war ein Kind des Red Thorn-Clans, allesamt eingefleischte Republikaner des Kuiper-Gürtels. Red Thorn brachte eine Menge Wissenschaftler hervor, doch er, Hayes, war der Einzige, der am Isis-Projekt beteiligt war — einer von den ganz wenigen Red Thorns, die überhaupt an einem vom Kartell gesponserten Unterfangen teilnahmen. Viele Red Thorns waren in der Sukzession umgekommen und die Meinung des Clans über das Kartell entsprach im Großen und Ganzen der einer Wachtel über die Schlange, die ihre Eier verschlingt.
Als Hayes den Isis-Vertrag unterschrieb, war er von Clan und Familie verstoßen worden. Er war schon damals den Red Thorn-Extremismus leid gewesen und hätte sich wenig aus der Exkommunikation gemacht, wenn er sich nicht auch von seiner Mutter hätte trennen müssen — sie war eine gebürtige Ice Walker, verheiratet mit seinem Vater nach einem Kuiper-Potlach[13] anno ’26. Ice Walkers waren dem Kartell nicht minder feindlich gesinnt, schätzten aber nichts höher ein als die Familie. Als seine Mutter ihm beim Abschied den Rücken gekehrt hatte, da hatte sie vor Scham gebebt. Er erinnerte sich noch an das korallenblaue Trägerkleid, das sie getragen hatte, wahrscheinlich das nüchternste von all ihren farbenfrohen Kostümen. Damals hatte er geahnt, dass er sie nie wiedersehen würde.
Nach dieser demütigenden Operette war ihm die Unterzeichnung des Familien-Treueschwurs so erniedrigend vorgekommen, als hätte er durch Kot waten müssen.
Doch es führte kein anderer Weg nach Isis.
Um wie viel schlimmer war es Zoe ergangen, aufgezogen als Maschine und mit Füßen getreten, als D&P in Ungnade fiel. Auch sie hatten einen Treueschwur getan, dachte Hayes, doch der war mit Blut geschrieben.
Sie wendete die letzte Seite des Terminplans. Hayes sah, wie ihr Mund schmal wurde. »Schlechte Nachricht?«
Sie sah auf. »Was? Oh — nein! Überhaupt nicht. Gute Nachricht! Theo kommt.«
Avrion Theophilus. Ihr Lehrer, dachte Hayes. Ihr Vater. Ihr Betreuer.
Sechs
Für einen kürzlich noch erdorientierten Ozeanologen wie Freeman Li war der isische Meeresboden eine immer neue Mischung aus Vertrautem und Bizarrem.
Hier, wie vielleicht auf allen Planeten, die höheres Leben hervorgebracht hatten, gab es Kissenlava und aktive Vulkanschlote — ›Schwarze Raucher‹, die das Wasser erhitzten und Blüten aus exotischen Mineralien trieben. Das grelle Licht seines benthalen[14] Telesensoriums erfasste den dicken, bunt schillernden Teppich aus bakteriellem Filz, lauter hitzeresistente Einzeller in abertausend Variationen, die fast so alt waren wie Isis selbst. Und auch das war ihm vertraut. Vor Jahren hatte er Derartiges im tiefen Pazifik gesehen.
Abgesehen von diesen Wahrzeichen war ihm der isische Ozean atemberaubend fremd. Pflanzen mit hohem Kalkgehalt erhoben sich zu Türmen und Obelisken und moscheeähnlichen Strukturen. Dazwischen schwammen oder bewegten sich Lebensformen mit und ohne Wirbel, manche groß, die meisten aber sehr klein, silberglänzend oder von pastellfarbener Blässe unter der ungewohnten Helligkeit.
So interessant diese Geschöpfe sein mochten, es waren die einfachen Einzeller, auf die Li es abgesehen hatte. In diesen ältesten Zellen isischen Lebens mochte der Schlüssel zu den großen Fragen liegen: Wie hatte sich das Leben auf Isis entwickelt, und warum hatte es in seiner äonenwährenden Entfaltung nichts hervorgebracht, das man verlässlich als ›intelligent‹ hätte bezeichnen können?
Dahinter lauerte die größere Frage — die Frage, die Li schon so oft mit Dieter Franklin, dem Planetologen von Yambuku, diskutiert hatte, eine so zentrale und so bestürzende Frage, dass sie sich einer Beantwortung zu entziehen schien: Sind wir allein?
Leben war nichts Ungewöhnliches im Universum. Isis war ein Beleg dafür, genau wie das runde Dutzend biologisch aktiver Welten, die man durch Planeteninterferometrie entdeckt hatte. Leben war, wenn nicht unvermeidlich, so doch etwas relativ Alltägliches in der Galaxis.
Doch trotz aller groß angelegten Lauschangriffe der Menschheit hatte es noch kein ›intelligentes‹ Signal, keinen Beweis für nichtmenschliche Raumfahrt, keinen Anhaltspunkt für eine Sternenweite Zivilisation gegeben. Wir expandieren in eine Leere hinaus, dachte Li. Wir rufen, aber niemand antwortet.
Wir sind einzigartig.
Er verstaute seine Fracht an bakteriellen Schabsein im Bauch des Telesensoriums und machte sich an den Aufstieg. Er hatte viel um die Ohren. Er war leitender Manager der maritimen Station und dieser Ausflug via Telepräsenz war ein Vergnügen gewesen, das er sich eigentlich nicht leisten konnte. Berichte mussten archiviert, Beschwerden gehört werden. Der ganze öde Kleinkram eines Großprojekts, der wie ein Befall mit Entenmuscheln immer und immer wieder nachwuchs…
Das Telesensorium stieg wie eine Stahlblase nach oben. Er sah zu, wie der Meeresboden nach unten sackte, spürte selbst aber keine Bewegung, nur die Rückenlehne und sein steifes Rückgrat. Telepräsenz nahm ihn derart in Anspruch, dass er fast vergaß, sich auf seinem Stuhl zu rühren; er litt an chronischen Lendenschmerzen und solche Exkursionen schienen sie noch zu verstärken.
Er hatte jetzt eine Höhe erreicht, wo das Tageslicht sichtbar wurde, das Wasser ringsum färbte sich indigoblau, dann abendblau, dann sturmgrün. Die schwimmende Meeresstation war in Sicht, eine ferne Kette aus Kapseln und Ankern — eine Perlenkette, die dem Meer aus der Hand baumelte. Da brach der Alarm los.
Li gab die Telekontrollen an seinen Assistenten Kay Feinn ab und überflog den Lagebericht, der auf dem Hauptschirm des Kontrollraums blinkte, dann erst klappte er seinen eigenen rasch blinkenden Palmtop auf.
Allgemeine Betriebsunterbrechung, Hauptschotts dicht, Kontamination in Kapsel Sechs. Die allerunterste Laboreinheit der Meeresstation war verseucht. Es brauchte noch einmal zehn Minuten, bis er von der Technik bestätigt bekam, dass die Kapsel anscheinend verseucht war und die beiden Männer im Innern auf wiederholtes Anrufen nicht reagierten. Auch die Telemetrie aus der fraglichen Kapsel war ausgefallen; die Kapsel war verschlossen und schwieg. Besonders das Versagen der Elektronik stieß auf Unverständnis. Angesichts verriegelter Schotts und mangels Input war sich die Technik nicht sicher, was als Nächstes zu tun war.
13
ursprünglich: von Häuptlingsanwärtern nordamerikanischer Indianer veranstaltetes Winterfest