Li wusste es: Er ließ den Shuttle für alle Fälle auf Not-Evakuierung umrüsten. Er befahl der Kommunikation, die IOS zu alarmieren und Rat einzuholen. Er war dabei, eine persönliche Verbindung mit Kenyon Degrandpre aufzubauen, als Kay, der noch immer das Kopfgeschirr trug, sagte: »Ich finde, Sie sollten sich das mal ansehen.«
»Schlechter Zeitpunkt.« Natürlich.
»Ich bin unten bei Kapsel Sechs«, sagte Kay. »Da.«
Li löschte die Verbindung und kletterte wieder in den Telepräsenzstuhl.
Kapsel Sechs war in katastrophalem Zustand — so viel verriet die Alarmsequenz —, doch Li sah keinerlei physische Schäden, jedenfalls nicht aus der Perspektive des Unterwassersensoriums.
Der Lichtfächer kämmte über die externe Sensorik von Kapsel Sechs. Nichts. Li bekam Besuch. Das Licht hatte einen Schwarm von riesigen, durchscheinenden Wesen angelockt — seine Mitarbeiter nannten sie ›Kirchenglocken‹. Harmlose Wirbellose, die unbekümmert durch die äquatorialen Gewässer zogen und nach Organellen fischten. Ein Schwarm von Kirchenglocken konnte wohl kaum ein ganzes Laboratorium lahm legen.
»Kay, was sollte ich mir ansehen?«
Die beiden in der Kapsel Eingesperrten waren Kyle Singh, ein Mikrobiologe aus dem Kuiper-Gürtel, und Roe Devereaux, ein terrestrischer Meeresbiologe. Selbst wenn sie die anfängliche Bioattacke überlebt hatten, was immer sie da attackiert hatte, so konnten sie den Stromausfall unmöglich überleben. Kapsel Sechs stand selbst für äquatoriale Gewässer so tief, dass sie rasch auskühlen würde. Und die Lufterneuerer, durch die Alarmsequenz auf höchste Entgiftungsstufe geschaltet, mussten längst überfordert sein.
Die Männer, dachte Freeman, waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben. Kapsel Sechs beherbergte alkaloides Tiefseeinventar. Viele tödliche Organismen gab es da unten, und sollte irgendetwas aus den Glove-Boxen entwischt und in die Luftversorgung gelangt sein, hatte das für Devereaux und Singh einen schnellen Tod bedeutet. Unterhalb von Sechs gab es nur noch die Ankerleine und die blinde Meerestiefe. Das Wasser hier glühte wie türkisfarbene Tinte und kreiste in einer Thermopause zwischen dem Habitat der druckverwöhnten Kirchenglocken und der wimmelnden Phytochemie der seichten Oberfläche. Planktonähnliche Einzeller und schneeflockengroße Bakterienkolonien rieselten aus dem Oberflächenwasser, ein Blizzard, der das biologisch reiche Benthal fütterte.
Die Kapsel schien intakt zu sein, aber sie war völlig dunkel. Devereaux hatte sich über eine Algenhaut beschwert, die Fenster und externe Sensorik trüben sollte. Freeman konnte nichts dergleichen bestätigen.
»Das Fenster rechts«, sagte Kay ungerührt. »Mir war, als hätte ich eine Art Entgasung gesehen, an einer Dichtung. Vielleicht sollten wir einen Ingenieur dazuholen.«
Freeman ließ den Lichtfächer des Sensoriums über eine bullaugenähnliche Glaswölbung tasten.
Da. Bewegung. Im Lampenlicht eine aufsteigende Perlschnur. Blasen. Luft.
Freemans Magen zog sich zusammen; ein Anflug von Panik. Das war weder ein Überdruckventil noch ein Ballastausgleich. Kay hatte Recht. Das war ein Leck.
Er gab Kay das Kopfgeschirr zurück, rief die Leitstelle und befahl dem Krisenmanager, seine Leute an den Entkopplern zu postieren. »Und halten Sie das Ballast-Kommando in Bereitschaft für den Fall, dass wir destabilisieren.« Eine geborstene Kapsel Sechs musste abgetrennt werden oder würde die anderen fünf mit in die Tiefe ziehen. Das war ein Worst-Case-Szenarium: geborstene Kapsel abwerfen; hoffen, dass die Rohrschotts dicht blieben, und versuchen, die ganze Kette daran zu hindern, wie ein Pendel zu schwingen.
Er ließ sich das Kopfgeschirr wieder geben und fuhr das Telesensorium aus dem Gefahrenbereich der defekten Kapsel. Der Lichtfächer schnitt durch eine zweite Perlschnur aus Luftblasen. Noch ein Leck. Mein Gott, das Labor war ein regelrechtes Sieb!
Im nächsten Moment implodierte die Kapsel — völlig lautlos. Bimetallnähte spritzten Schaumfontänen, bogen sich einwärts, stählerne Halbkugeln zerfetzten zu ausgefransten Kelchblättern. Es gab kein Geräusch — weil das Sensorium keine Mikrophone hatte — aber die Schockwelle musste gewaltig sein. Freemans Gesichtsfeld tanzte einen Veitstanz; kaum dass es sich beruhigt hatte, kam ein Beben aus der Kapselkette und rüttelte am Boden unter seinen Füßen.
Er befahl die Nottrennung und verfolgte die Maßnahme. Sprengladungen trennten die Kapsel vom Rest der Station. Trümmerstücke — Polyesterkissen, Glove-Box-Gitter, Konglomerate aus Kleidung, in denen Körper gesteckt haben mochten oder nicht — das und mehr löste sich aus dem Metallknäuel und floh an die Oberfläche. Die formlose Masse der Kapsel sank einfach, gefangen in ihren eigenen Ankerketten, als hätte eine riesige Faust hinaufgelangt, um sie zu holen.
Kirchenglocken, schwach schillernd, schossen durchs aufgewühlte Wasser und flohen in die Tiefe.
Als Kenyon Degrandpre von dem Unglück erfuhr, orderte er unverzüglich einen Transitroboter und ließ sich zur Leitstelle bringen. Er fürchtete sich vor den Einzelheiten, die dort auf ihn warteten, aber er brauchte jetzt einen klaren Kopf. Tue, was getan werden muss; heb dir die Konsequenzen für später auf.
In der Leitstelle drängten sich die Juniormanager und konkurrierten um die Plätze an den Konsolen. Er schickte alle fort, die keine Befehlsgewalt hatten, mit Ausnahme der Ingenieure, und befahl der Nachrichten-Crew, bis auf Weiteres auf dem Posten zu bleiben. Besser, jemand bettelte um eine Pinkelpause, als dass er einem im Weg stand. Er umgab sich mit vier untergeordneten Mitarbeitern und verbannte alles vom Hauptbildschirm bis auf den Verkehr mit dem maritimen Außenposten.
Da unten schien aber niemand Zeit zu haben. Nur die normalen Telemetriekanäle waren aktiv. Sie sprachen Bände. Die tiefste Abteilung der unterseeischen Kapselkette war implodiert, und das nur Minuten nach einem Kontaminationsalarm. Offenbar hingen die beiden Ereignisse zusammen, aber wie? Ohne die zerstörte Kapsel war es schwer, Antworten zu finden. Nicht, dass jemand unbedingt Antworten gesucht hätte; nach dem Absprengen des zerstörten Labors hatte der Außenposten alle Hände voll zu tun, seine Stabilität wiederherzustellen. Degrandpre fragte sich, ob diese radikale Maßnahme wirklich nötig gewesen war oder ob Freeman Li etwas zu vertuschen hatte. Nein, es sei einwandfrei ein Akt der Selbsterhaltung gewesen, versicherten ihm die Ingenieure. Trotzdem…
Aber die wichtigste Frage war jetzt, ob die Kontamination auf Kapsel Sechs beschränkt geblieben war.
Degrandpre bestellte Kaffee, und zwar für alle, die in der Leitstelle waren, dann wartete er mit unverhohlener Nervosität darauf, dass Li — immerhin ein Terrestrier -Zeit fand für eine Direktschaltung.
Wenn er warten musste, fühlte er sich ohnmächtig. Egal ob und wann Li sich melden würde, der Vorfall würde seine Vorgesetzten auf der Erde wütend machen. Er würde den Familien berichten müssen — was nur in Extremfällen vorgeschrieben war — und jede Verantwortung übernehmen müssen, der er nicht geschickt ausweichen konnte. Und bis dahin…
Bis dahin konnte er nur beten, dass der Schaden begrenzt blieb.
Ein Juniormanager brachte ihm Kaffee. Der Kaffee war synthetisch und schmeckte nach Asche mit Brunnenwasser. Er hatte zwei Tassen leer getrunken, als Li endlich auf dem Schirm erschien, mit derangierter Konzernuniform und schweißnassen Achseln. Lis Haut war klassisch dunkel, während die von Degrandpre klassisch hell war; beide Männer hätten auf der Erde als einigermaßen gut aussehend gegolten, allerdings nicht in den Kuiper-Siedlungen, wo man als Hautfarbe eine Art Muwallad-Braun[15] favorisierte.