Nach einer ausgedehnten Sitzung, in der er die Abteilungsleiter instruiert hatte, kehrte er in seine Kabine zurück, um einen ganzen Stapel Post von der Erde durchzusehen. Und, ja, Corbus Nefford hatte Recht; da war eine Anweisung, die weitreichende, neue Protokolle für die Turing-Fabriken aufführte und wertvolles Rohmaterial für das Projekt eines gewaltigen Falschfarbeninterferometers abzweigte. Devices & Personnel wollte noch vor Ablauf der Dekade die Inbetriebnahme eines Planetenabbilders und dazu eine ganze Armada von Sekundärsonden, um kleine Asteroiden und Kuiper-Objekte zu identifizieren, die sich eventuell als Higgs-Katapulte eignen könnten. Irrsinn! Doch das Kartell spielte mit und Degrandpre waren die Hände gebunden; der Verlust des Unterwasserlabors verunzierte bereits seine Personalakte.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er Freude an diesem Machtpoker gehabt. Da hatte er sich solchen Dingen noch gewachsen gefühlt. Doch die Kräfte, die hier am Werk zu sein schienen, waren gewaltig, unpersönlich, hegelianisch. Er würde zerquetscht werden oder nicht; er war nicht Herr der Lage.
Es sei denn…
Verschüttet in dem Stapel von Kommunikees fand sich eine gesicherte Order, die besagte, dass mit Zoe Fishers Außenarbeit ›so schnell wie irgend möglich‹ zu beginnen sei. Er hielt diese Order erst für einen Zusatz von Devices & Personnel, doch dem war nicht so; die Order trug das Konzernsiegel. Er war verblüfft: Den Außenaufenthalt der Fisher zu überstürzen, konnte allzu leicht ein weiteres Opfer fordern, was seine Personalakte noch mehr verunzieren…
… und den Radikalen von Devices & Personnel einen tüchtigen Dämpfer aufsetzen würde? War das die Absicht des Konzerns?
Das war allerdings heikel. Die Order nahm sich harmlos aus. Das Merkwürdige daran war nur, dass sie ein Projekt von Devices & Personnel betraf, aber nicht das D&P-Imprimatur trug. Von Bedeutung oder nicht?
Eins stand fest. Die Fisher war von Bedeutung, und zwar nicht zu knapp und für allerhand Leute. Sie war, wie sein Vater zu sagen pflegte, eine Türangel, die ein großes Gewicht trug. An ihr würde er nicht vorbeikommen, ob sie nun lebte oder nicht überlebte.
Sieben
Als Zoe hörte, was passiert war, eilte sie sofort zum Gemeinschaftsraum. Der größte Teil der Yambuku-Belegschaft war dort schon versammelt — viele grimmig zusammengedrängt, derweil der Hauptplasmabildschirm bruchstückhafte Telemetrie aus dem maritimen Außenposten zeigte. Sie war früh zu Bett gegangen und hatte geschlafen, als die ersten Meldungen einliefen; als der Bereitschaftsalarm jaulte, waren Singh und Devereaux längst tot gewesen, ihr Labor zermalmt und verschlungen von der äquatorialen See.
Isis hat sie getötet, würde Hayes sagen… während es Zoe gegen den Strich ging, ein Unglück so zu deuten. Nicht Isis war der Feind. Nein und abermals nein. Der Feind hieß Leichtsinn oder Unwissenheit oder Unberechenbarkeit.
Singh und Devereaux hatten in ihrer Orientierungsphase eine Zeit lang in Yambuku gearbeitet. Die meisten hier kannten sie. Mit Ausnahme der verschwiegenen IOS-Techniker und der höherrangigen Kachos kannte im Einzugsbereich von Isis jeder jeden, und das galt in ganz besonderem Maße für die Crews der Bodenstationen. Yambuku trauerte um Singh und Devereaux, wie die Meereslaboratorien um Macabie Feya getrauert hatten.
Drei Todesfälle seit ich hier bin, dachte Zoe. Wir sind Soldaten im Krieg. Wir sehen einander sterben.
Tonya Cooper suchte Trost an der Schulter von Em Vya, einem Junior-Phytochemiker. Beide weinten still. Zoe musste selbst schlucken; sie hatte die beiden Männer zwar nicht gekannt, aber es musste schrecklich sein, vom brutalen Gewicht des Ozeans erdrückt zu werden. Sie waren — wie Macabie Feya — in die namenlose Unermesslichkeit von Isis eingegangen.
Tam Hayes stand schweigend in der Ostecke des Raums, gleich neben dem großen physikalischen Globus von Isis. Der Globus sei eines von Mac Feyas Freizeitprojekten gewesen, hatte Elam gesagt. Ein Kunstwerk aus Yambukus Überschuss — handgeblasen aus Silikaschmelze, die Details den Messtischblättern aus dem IOS-Archiv entnommen und von einem Montageroboter in die Oberfläche gefräst. Der Globus war eisblau und frostgrau, leicht lichtdurchlässig. Zoe sah, wie Hayes die Silikablase drehte, um die Laborinsel zu lokalisieren, ein unendlich winziger Fleck im glasigen Türkis der äquatorialen Südsee. Sie gesellte sich zum ihm und verfolgte mit den Augen, wie sein Finger eine bedeutungslose Linie bis zu einer Kette aus vulkanischen Inseln zog, einem Anhängsel des Großen Westkontinents, das aussah wie ein gekrümmter Finger, gut fünftausend Kilometer von hier. Zoe war es, als könne sie seine Gedanken lesen: noch mehr Tote in dieser ganzen fremden blauen Unermesslichkeit…
Sie legte ihm die Hand auf den Arm.
Eine impulsive Geste, die sie zuerst nicht wahrhaben wollte. Der Schock entfaltete sich in Zeitlupe. Hayes schien keine Notiz zu nehmen, sah allerdings auf, als sie ihre Hand wegzog.
Sein Hemdsärmel hatte sich warm angefühlt, so warm wie seine Hand.
»Wir verlieren«, sagte er. »Mein Gott, Zoe. Gigadollars, um uns herzubringen, uns bei der Stange zu halten, und wir verlieren gegen den Planeten.« Zu allem Überfluss erwiderte er die Berührung, legte ihr die Hand auf die Schulter, und Zoe nahm mehrere Dinge gleichzeitig wahr: seinen Geruch, das Stimmengemurmel im Raum und das mitternächtliche Getuschel der Homöostaten. Von außen gesehen war Yambuku jetzt eine Blase aus gelbem Licht in einer mondlosen Finsternis, in der sich das Labyrinth des Waldes bis ins Gebirge erstreckte, bis ans Meer. »Das ist kein Zufall mehr. Vielleicht hat Dieter Recht mit seiner Paranoia. Der Planet pellt uns aus unseren Gehäusen, knackt uns regelrecht auf. Es fehlt nicht mehr viel und man bläst die ganze Sache ab und steigt um auf Roboter…«
»Es war ein Unglück«, brachte Zoe heraus. Idiotisch, dachte sie.
»Das ist dem Kartell egal. Und den Familien auch.«
Aber mir nicht, dachte Zoe. Und ihm auch nicht, auch wenn er das nicht offen zugibt.
Elam Mather durchquerte den Raum — sie steckte in einem zerknitterten Schlafanzug, die Augen voller Sorge, in der Hand einen aktiven Palmtop. »Neuigkeiten von oben«, sagte sie.
Hayes sah sie erwartungsvoll an.
»Ich soll hinfliegen«, erklärte Elam. »Zur Laborinsel. Ich soll herausfinden, was passiert ist.«
Als deutlich wurde, dass sich die Lage stabilisiert hatte, begann sich der Gemeinschaftsraum zu leeren. Zoe, hellwach und voller Koffein, setzte sich an einen Konferenztisch, der im fahlen Schein der aktiven Wandschirme schwamm.
Jon Jiang, der Nachtschicht-Ingenieur, verabschiedete sich mit einem traurigen Nicken. Jetzt war sie allein. Als sie den großen Schirm an der Westwand aus dem alphanumerischen Standby-Modus auf eine Außenkamera umschaltete, kam sie sich fast wie ein Dieb vor.
Kühl war es diese Nacht, sagte die kriechende Statuszeile am oberen Bildschirmrand. Einundzwanzig Grad Celsius, Wind aus Westnordwest mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern. Sterne, die wie Granatsplitter glitzerten, ein Zirrusschleier trübte den Himmel.
Ihr war seltsam zumute. Wie, hätte sie nicht sagen können.
So ähnlich war ihr vor Jahren zumute gewesen, als Theo gekommen war, um sie aus den kahlen Korridoren und grässlichen Steinkammern des Teheraner Findelheims zu befreien. Diese widersprüchliche Mischung aus Gefühlen: Angst vor der Zukunft, Angst vor dem großen Fremden in seiner schneidigen schwarzen Uniform, und zugleich eine nervöse Hochstimmung, eine süße Ahnung von Freiheit.