Ihre Erinnerungen an Teheran waren ›geglättet‹ worden — so der medizinische Ausdruck — bis die Konturen verwischt und die Schrecken gelöscht waren. Sie wusste nur, dass die Aufseher ihre Schwestern regelmäßig vergewaltigt und schließlich hatten verhungern lassen, und dass man sie, Zoe, nach Belieben als Sexobjekt benutzt und herumgereicht hatte. Sie verzieh ihnen nicht, aber Wut und Zorn hatten sich gelegt; die meisten ihrer Peiniger waren wahrscheinlich in den Unruhen der Vierziger umgekommen, in der Feuersbrunst, die aus den Industrieslums um sich gegriffen und den Heimkomplex verschlungen hatte. Diese Leute waren tot und sie lebte noch; vor allem aber hatte sie zu ihrer Bestimmung zurückgefunden, derenthalben sie geboren war: zu den Sternen.
Warum schauderte sie dann aber vor jeder Berührung mit der materiellen Welt zurück? Draußen, in ihrem Schutzanzug, beim ersten kühlen Regentropfen, der ihr auf die Schulter gefallen war? Und unter der großen, rauen Hand von Tam Hayes?
Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst. Wie oft hatte sie dieses kleine Mantra in ihrem Leben wiederholt? Es sei, so hatten ihr die medizinischen Ontogenetiker erklärt, ein Vermächtnis aus ihrer Zeit in Teheran. Eine Aversion, die so tief saß, dass man sie nicht mehr ausmerzen konnte. Und wenn schon. Wer sollte sie schon anfassen, da wo sie hinwollte? Auf ihrer Einmann-Expedition durch die Wildnis von Isis gab es nur einen einzigen Menschen — sie selbst.
Aber wieso blickte sie dann mit tränenverschleierten Augen in den Nachthimmel? Wieso verirrte sich ihre Hand immer wieder dahin, wo Tam Hayes sie berührt hatte, als wolle sie das Gespenst seiner Wärme dort festhalten?
Wieso sprudelte die Erinnerung seit geraumer Zeit, als habe sich eine dunkle unterirdische Quelle aufgetan?
Sie wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte mit ihr. Und dass niemand davon erfahren durfte. Nur schon der Verdacht, sie könne krank sein, würde reichen, sie zur IOS, vielleicht sogar zur Erde zurückzuschicken.
Und das hieß Abschied nehmen.
Von ihrer Arbeit.
Von Tam Hayes.
Von ihrer Bestimmung.
Zwei Tage vergingen. Die Krise im maritimen Außenposten war bewältigt; die Stimmung in Yambuku klarte ein bisschen auf, doch Zoe entging nicht, dass die Notfallspezialisten ihre Palmtops aufgeklappt auf den Pulten liegen hatten — gefasst war man offenbar auf alles. Sie verwendete den Vormittag auf die Simulation eines Spaziergangs durch das üppige Terrain westlich des Copper River, dann nahm sie ihren Lunch mit in den Hangar und sah zu, wie die Wartungscrew den Shuttle für Elams Flug übers Meer vorbereitete.
Wartung war Sache der Technik. Lee Reisman, Sharon Carpenter und Kwame Sen winkten ihr zu, doch von Kwame gewahrte sie mehr als nur ein paar verstohlene Blicke. Fühlte er sich zu ihr hingezogen? Sexuell? Der Gedanke war beunruhigend. Zoe hatte in den D&P-Einrichtungen mit Gleichaltrigen studiert, aber die meisten Klassenkameraden waren heterosexuelle Frauen gewesen oder männliche Junior-Aristokraten, die mit Orchidektomie-Abzeichen protzten. Und Zoe hatte sich nichts daraus gemacht. Die medizinische Betreuung hatte ihr ein breites Spektrum von Masturbations-Sutras mit auf den Weg gegeben. Weil man das als ihre gängige sexuelle Praxis vorgesehen hatte. Mehr musste nicht sein.
Doch inzwischen masturbierte sie fast jede Nacht und musste dabei — naja — nicht selten an Tam Hayes denken.
Elam Mather betrat den Hangar und setzte sich zu Zoe an den Tisch, sie schob einen Stapel Checklisten beiseite, um Platz zu machen für ihre Kaffeetasse. Die ältere Frau nickte ihr geistesabwesend zu, sagte aber nichts und starrte auf den Shuttle. Kwame sah nicht mehr her.
Zoe sagte: »Ich wünsche Ihnen einen guten Flug, Elam.«
»Hm? Oh. Besser nicht. Jemandem Glück wünschen, bringt Unglück.«
So ein wirres Zeug kam nur Kuiper-Leuten über die Lippen. Klar, Zoe hatte die ganzen Geschichten gelesen; wie jedes Schulkind im System konnte auch sie die Gründung der einzelnen Republiken herbeten. Doch nichts von diesem trockenen Wissen hatte sie auf die Realität einer Kuiper-dominierten Gemeinschaft wie Yambuku vorbereitet — die beängstigende Freizügigkeit im Umgang mit der Rangordnung, die unverfrorene Sexualität. Es gab keine kastrierten Kuiper-Männer, egal welcher gesellschaftlichen Stellung; unter ihnen kam man sich eher vor wie in einem Wildgehege; diese Leute machten keinen Hehl aus ihren Bedürfnissen, ihren Rendezvous und ihren Kopulationen…
»Ganz so schlimm sind wir nicht«, sagte Elam.
Zoe war verdutzt. »Sie auch? Können Sie Gedanken lesen?«
Elam lachte. »Leider nein. Aber ich arbeite nicht zum ersten Mal mit Terrestriern — man lernt diesen Gesichtsausdruck kennen, Sie wissen schon, dieses — ›O Gott, was kommt jetzt noch?‹«
Zoe traute sich zu lächeln.
»Eigentlich«, setzte Elam hinzu, »passen Sie sich sehr gut an für jemanden, der die meiste Zeit auf der Erde gelebt hat.«
»Sie haben die meiste Zeit im Kuiper-Gürtel gelebt. Ich meine… wir sind doch jetzt hier auf Isis, oder?«
»Richtig. Sie haben Recht. Wir sind hier. Hier auf Isis. Wir sind nicht mehr, was wir früher waren.« Elam erwiderte das vorsichtige Lächeln ihres Gegenübers. »Ich fange an zu verstehen, was Tam in Ihnen sieht.«
Zoe bekam rote Ohren.
Sie dachte: Er sieht was in mir?
In dieser Nacht träumte sie von ihrem ersten Zuhause — nicht von der scheußlichen Kaserne in Teheran, sondern von der kuscheligen, kühlen D&P-Krippe ihrer Babyjahre.
Die Krippe lag in einer Enklave tief in der amerikanischen Wildnis. An manchen Picknicktagen hatte die ferne kristallgrüne Kuppel wie ein Tautropfen in der welligen Prärie gefunkelt.
Die Kindersäle und Kinderzimmer waren samtweich gewesen, alle Ecken gerundet, die Luft kühl und lieblich. Und Angst oder Zweifel hatte sie nicht gekannt, nicht in der Krippe. Jedes Kindermädchen, darunter viele ganz normale Menschen, kümmerte sich um ein bestimmtes Kind; sie waren streng aber herzensgut gewesen, mollige, liebe Engel eben.
Sie hatte ihr grünes Trägerröckchen jeden Morgen und jeden Nachmittag gewechselt, der schlichte Stoff war immer frisch gestärkt und blitzsauber gewesen. Und sie hatte sich auf das allabendliche Bad gefreut, das Spritzen und Plantschen mit ihren Geschwistern unter den nachsichtigen Blicken stillender Kindermädchen, die auf den Terrassen über dem dampfenden Wasser saßen.
In ihrem Traum war sie wieder im Badebecken und schaufelte Wellen über den gelben Schwimmring. Doch der Traum entgleiste, als plötzlich ringsherum lauter große, uralte Bäume — Farnpalmen oder Riesenbärlapp — aus dem Boden schossen. Die Stimmen ihrer Geschwister waren verstummt. Sie war allein, fröstelnd, nackt in einem Wald, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie kletterte aus dem Wasser ans moosbewachsene Ufer. Schwarzes Erdreich polsterte ihre Füße; die Felsbrocken waren mit samtgrünen Leberblümchen bestickt. Sie wusste nicht, wie sie hergekommen war und wie sie heimfinden sollte. Ihr Magen fühlte sich an wie eine geballte Faust, Panik stieg in ihr hoch. Dann tauchte im feuchten Dunstschleier ein Schatten, ein Schemen auf. Avrion Theophilus, ihr innig geliebter Theo in seiner schneidigen D&P-Uniform… doch als sie ihn erkannte, wandte sie sich ab und lief, lief so schnell sie ihre Füße trugen, lief vergebens, denn seine dumpfen Schritte wurden nicht leiser.
Sie wachte im Dunkeln auf.
Ihr Herz raste. Es beruhigte sich, doch das Bedrohliche, das Elektrisierende vibrierte weiterhin durch ihren Körper.