Der Leiter der Startvorbereitungen — einer von diesen langgesichtigen, terrestrischen Kachos[3], die zwar Sternenschiffe und ihre Fracht inspizierten, aber nicht im Traum daran dachten, mit an Bord zu gehen, — er näherte sich Zoe, die erst zur Hälfte eingepanzert war. Seine Lippen waren geschürzt, ein Zeichen des Missfallens. »Ein Anruf für Sie, Bürgerin Fisher.«
Mitten in den Startvorbereitungen? Wer jetzt noch anrief, dachte Zoe, der musste ziemlich einflussreich sein, höhere Kartell-Position oder zumindest — zu schön, um wahr zu sein — jemand aus der Abteilung für Devices & Personnel. Die untere Hälfte ihres Körpers steckte bereits in der massigen Reisemontur, stählerne Futterale, zu schwer, um sie unter gleich welchen Fliehkräften ohne hydraulische Hilfen von der Stelle zu bewegen. Sie kam sich vor wie ein fahrender Ritter, den man mit einer Winde aufs Pferd hieven wollte. Hilflos. »Wer ist es?«
»Ihr D&P-Mann aus der Deimos-Installation.«
Theo. Wer sagt es denn. Sie grinste. »Lassen Sie einen Monitor rüberwachsen, bitte.«
Er machte ein mürrisches Gesicht, holte ihr aber ein Bildschirmgerät. Die Rüstkammer war eng, wie alle Kammern in diesem Minikometen. Ein Großteil von Phoenix war ausgehöhlt worden, um Platz für den Fusionsgenerator und die Nutzlast zu schaffen; die wasserreichen Trümmer der kleinen Welt hatte man zu bestimmten Recyclingpunkten geschickt, die näher zur Sonne lagen. Im Grunde waren diese Druckkammern Provisorien — wozu Mühe auf ein Habitat verwenden, das man ohnehin verdampfen wollte? Der Raum ringsum war so trostlos, wie die Turing-Konstrukteure ihn hinterlassen hatten, medizinische und technische Apparaturen waren wahllos an die glatten, weißen Wände gezurrt.
Wenigstens die Hände hatte sie frei. Zoe tippte auf das ID-Feld des Monitors.
Sofort erschien Avrion Theophilus auf dem Schirm. Theo war ein älterer Mann, mitten in der ersten Dekade seines zweiten Jahrhunderts. Weißes aber volles Haar, die Haut war blass aber geschmeidig. Er begrüßte sie in Hochenglisch, was die im Kuiper-Gürtel geborenen Techniker nervöse Blicke tauschen ließ.
Er entschuldigte sich für die Störung. »Ich wollte dir Glück wünschen, nicht dass du es nötig hättest. Die Zeit ist knapp, ich weiß.«
Zu knapp. Oder nicht knapp genug. Zoe spürte eine merkwürdige, namenlose Leere im Magen. »Danke.«
Sie wünschte, er hätte hier sein können, um ihr persönlich Lebewohl zu sagen. Sie vermisste ihren Mentor. Vor mehr als einem Jahr hatte sie ihn zurückgelassen, in einem Sonnengarten auf Deimos. Theo durfte nicht herkommen, weil er seine Darmflora mitgebracht hätte. Phoenix war sauber — zurzeit der sauberste, bewohnte Flecken im ganzen System; Zoes eigene, gutartige Bakterien und andere organische Trittbrettfahrer waren systematisch ausgerottet und wo nötig durch sterile Nanobakterien ersetzt worden. Selbst die Techniker aus den erregerfreien Kuiper-Kolonien mussten sich dekontaminieren lassen, bevor sie einen Fuß auf Phoenix setzen durften.
»Sei tapfer, Kleines«, sagte Theo. »Sieht überfüllt aus bei dir.«
Die Kammer war überfüllt, und zwar mit Technikern, die so dicht standen wie Rinder im Stall, allesamt ungeduldig darauf wartend, dass Zoe das Gespräch beendete. »Man behandelt mich, als wär ich radioaktiv«, flüsterte sie.
»Bist du nicht. Aber die anderen könnten es bald sein, wenn sie nicht planmäßig verschwinden. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie allmählich nervös werden. Wir sollten sie nicht länger aufhalten.«
»Ich bin froh, dass du angerufen hast.« Es tat gut, ihn wiederzusehen, sein Hochadelsgesicht, so ruhig und stolz. Avrion Theophilus war der einzige Mensch, dem Zoe jemals voll und ganz vertraut hatte, und der härteste Teil dieser Mission war — bis jetzt zumindest — ihre Trennung von Theo gewesen. War das nicht paradox? Einsamkeit zu ertragen, dazu war sie gezüchtet und reguliert worden. Doch mit Theo verhielt es sich anders. Er war nicht irgendein Mensch. Für sie war er… naja, Theo eben.
Das, was einem Vater am nächsten kam.
»Gute Reise, Zoe.« Er schien zu zögern. »Du weißt, dass ich dich beneide.«
»Ich wünschte, du könntest mitkommen.«
»Eines Tages. Mit etwas Glück schon bald.«
Das klang rätselhaft, doch Zoe fragte nicht. Theo hatte schon immer nach Isis gewollt. Und in einem gewissen Sinn nahm sie ihn ja auch mit. Über die Brücke zu den Sternen kommt man nur mit kleinem Gepäck, pflegte Theo zu sagen. Doch Erinnerungen hatten keine Masse und ihre Erinnerungen an Theo waren tief verwurzelt. Das wollte sie ihm sagen, doch es schnürte ihr den Hals zu.
Er lächelte ermutigend und war im selben Augenblick verschwunden. Ein Techniker nahm ihr den Monitor ab.
Die Zeit lief ihnen davon. Der Sicherheitskragen der Reisemontur schnappte ins Schloss und machte den Kopf unbeweglich. Was jetzt kam, war unangenehm, auch wenn sie es trainiert hatte; sie musste lähmendes Eingepferchtsein und absolute Dunkelheit ertragen, zumindest bis das medizinische System aktiv wurde und den Panzer veranlasste, ihren Körper mit narkotisierenden und angstlösenden Molekülen zu überschwemmen. Ich werde schlafen, dachte Zoe in ihrem stählernen Futteral.
Sie wartete auf den massiven Helm, eine finstere Kapsel. Das Herz hämmerte gegen die Rippen.
Das übrige technische Personal, unter ihnen Anna Chopra, verließ Phoenix in einer kleinen Armada rückstoßgetriebener Fahrzeuge.
Anna konnte ihre kleine Trotzreaktion nicht vergessen, zu ihrem Leidwesen. Natürlich war es eine Dummheit gewesen. Eine Geste, eine Laune, nutzlos und höchstwahrscheinlich ohne Konsequenzen. Sie war versucht, sich zu stellen und die Sache aus der Welt zu schaffen; besser eine frühzeitige Sterbehilfe als noch zehn Jahre in der Geriatrie.
Obwohl… sie hatte eine diebische Freude daran, endlich, in ihrem Alter, ein Geheimnis zu haben, das zu wahren sich lohnte.
Hatte sie dem Mädchen einen Gefallen getan? Das hatte sie noch geglaubt, als sie mit dem Skalpell zu Werke ging, jetzt war sie skeptisch. Wenn Zoe Fisher ohne ihr neurochemisches Sicherheitsnetz aufwachte, würde sie den Unterschied nicht merken. Es würde Wochen, wenn nicht Monate brauchen, bis ihre neuralen Rezeptoren den Thymostaten vermissen und darauf reagieren würden. Die Symptome würden erst nach und nach auftreten und ließen Zoe vielleicht Zeit genug, sich auf das ungeregelte Leben einzustellen. Womöglich gefiel sie sich im Laufe der Zeit besser so. Doch früher oder später würde sie dem Kartell auffallen. Ihr Thymostat würde ersetzt werden, und was Zoe auch immer an innerer Bereicherung erfahren hatte, würde sich wieder verlieren. Aus der Traum.
Und trotzdem… alles Geborene war dem Tod geweiht, mit Ausnahme des Kartells vielleicht, und wenn Leben irgendeinen Sinn hatte, dann war selbst ein kurzes Leben besser als gar keins. Im Grunde ihres Herzens gefiel Anna die Vorstellung, dass sie eine Zoe Fisher, ein Retortenbaby von Devices & Personnel, für kurze Zeit den Klauen des Kartells entrissen hatte.
Tu etwas, Zoe, dachte Anna. Tu etwas ganz Verrücktes, Törichtes oder Großartiges. Heule, verliebe dich, schreibe Gedichte. Sieh dich mit rollenden Augen in deiner neuen Welt um.
Sie justierte den Kabinenschirm auf die Außenansicht von Phoenix, nur mehr ein schwacher Lichtpunkt in einem schwarzen, leeren Schacht. Sie war zu dem Schluss gekommen, sich den Start anzusehen — die strahlende Blüte der Fusion, die glühende, verblassende Morgenröte.
Komatös und eingepfercht, wie sie war, wurde Zoe zu einem weiteren, passiven Gegenstand, die allesamt von gehorsamen Robotern ins Herz der Transferanlage transportiert und in der Nutzlastkugel angeschirrt wurden; letztere hing an gewaltigen Masten über dem entkernten Massiv aus Gestein und Eis. Die Kugel war umgeben von riesigen, oktogonalen Kristallen; diese Linsen aus exotischer Materie würden zusammen mit dem Rest von Phoenix vernichtet werden, doch Femtosekunden zuvor würden sie ihren Zweck erfüllt haben.