Leben ist manchmal unberechenbar.
Damit konnte sie sich anfreunden. Vielleicht. Doch Tam wusste nicht alles über Zoe, es gab Dinge, die sie ihm mitteilen sollte. Sie klappte ihren Palmtop auf und begann zu schreiben… absenden konnte sie es nach der Landung.
Sie schrieb, bis ihre Aufmerksamkeit von einer Inselkette in Anspruch genommen wurde, die unter der rechten Tragfläche vorüberzog. Jede Insel ein vor Urzeiten erloschener Vulkan, jede grün bis an den Rand ihres Kraters. Riffe, nicht aus Korallen, sondern aus dem Kalkgerüst ganz anderer wirbelloser Tiere, zerkochten das seichte Wasser zu buntem Schaum. Das Licht fiel hier schräger ein und machte lauter Täler aus der flachen Dünung. Hatte sie geschlafen? Ein Crewmitglied kam vorbei: Andocken und Dekontaminierung in weniger als einer halben Stunde.
Sie regulierte ihr Rückhaltesystem, verstaute den Palmtop und schloss wieder die Augen; sie dachte an Hayes und Zoe, die Hartnäckigkeit des Lebens, das universelle Bedürfnis zu verschmelzen, sich zu verbinden, zu entfalten… und auch an die Verwundbarkeit des Lebens, an das Meer, an die großen Fische, die die kleinen fraßen, und an die enorme Reichweite der Erde.
Der leitende Kacho der Laborinsel war Freeman Li, ein Terrestrier, mit dem Elam schon im Laufe ihrer Ausbildung und auf Isis zusammengearbeitet hatte. Er war ihr sympathischer als die meisten Terraner: ein flexibler Denker, klein, auffallend kräftiger Brustkorb, dunkelhäutig, ein Sherpa[17], dessen Familie sich auf die marsianischen Luftfarmen verteilte. Ein aufgedrehter, besorgter Typ, auf dessen Besorgnis normalerweise Verlass war.
Er war auch jetzt besorgt. Er brachte Elam direkt von der Dekontamination zum nächsten Gemeinschaftsraum, einer niedrigen, achteckigen Kammer zwischen dem Mikrobiologischen und dem Technischen Deck. Elam nahm an, dass sie sich unter dem Meeresspiegel befand, Anhaltspunkte dafür gab es nicht; der maritime Außenposten war so hermetisch abgedichtet wie Marburg oder Yambuku. Die berechnete Masse der Station und die tiefe Verankerung verhinderten, dass sie sich mit der Dünung bewegte, obwohl Taifune, so hatte man Elam gesagt, die Station dazu brachten, wie ein Senkblei zu schwingen. Jetzt war nichts dergleichen zu spüren.
»Ich will ehrlich sein, Elam«, sagte Li und rührte geistesabwesend in seinem schwarzen Tee. »Als das passiert war, wollte ich von Degrandpre eine komplette Evakuierung. Und ich halte das nach wie vor für richtig. Was immer Singh und Devereaux getötet und Kapsel Sechs vernichtet hat, es hat so schnell zugeschlagen, dass wir es nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten. Und wir haben immer noch keinen Hinweis auf das verantwortliche Agens. Da unten gibt es massenhaft toxische Agenzien und viele stecken hier überall in den Glove-Box-Tresoren. Jedes Agens, das es ausschließlich in Kapsel Sechs gegeben hat, kann nur ein Isolat oder Extrakt gewesen sein, aber nichts Lebendiges.«
»Ätzende Substanzen?«
»Manche extrem aggressiv, ja, und allesamt ausgesprochen toxisch. Eine signifikante Freisetzung hätte leicht zwei Menschen töten und den Alarm auslösen können. Aber den Schaden an der Kapsel selbst, nein, undenkbar, dass ein einzelnes Agens oder eine Kombination von Agenzien so etwas fertig bringt.«
»Nach unserem jetzigen Kenntnisstand.«
Er zuckte die Achseln. »Jaja, Sie haben Recht. Was wissen wir schon? Aber wir reden von chemischen Isolaten im Mikrogrammbereich.«
»Irgendwelche anderen Probleme — vor dem Unglück?«
»Kapsel Sechs hatte Ärger mit einem schmierigen Algenfilm, der den externen Probennehmern und Sensoren zu schaffen machte. Aber ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Ähnlichen Ärger hatten wir an allen Kapseln, obwohl das Problem mit zunehmender Tiefe schlimmer wird. Es wäre ein gewaltiger Zufall, wenn beides gleichzeitig passiert wäre — eine toxische Freisetzung in der Kapsel und eine Dichtung, die so marode ist, dass die ganze Kapsel implodiert.«
»Was immer die Dichtung zersetzt hat, hat vielleicht Ähnliches mit dem Glove-Box-Tresor gemacht.«
»Vielleicht. Wahrscheinlich. Finden Sie nicht, dass das für Alarmstufe eins reicht?«
Sie dachte nach. »Was Kapsel Sechs zu einem Sonderfall machen würde, ist also nur ein schwerer Algenbefall im äußeren Sensorium?«
»Sonderfall? Ich weiß nicht. Die Grenzen sind fließend. Aber so, wie Sie es meinen, ja.«
»Kann ich mir diese Organismen ansehen?«
»Natürlich.«
Freeman Li war trotz Degrandpre auf Nummer Sicher gegangen und hatte die Belegschaft in die oberen zwei Kapseln verbannt; von da aus konnten sie, wenn Not am Mann war, rasch zur Startrampe entkommen. Die übrigen drei Kapseln waren hermetisch abgeriegelt. Das ging natürlich auf Kosten der allgemeinen Rentabilität und unterbrach mindestens zwei vielversprechende Forschungsprojekte, doch Li meinte kategorisch: »Das ist Degrandpres Problem, nicht meins.«
Eine lobenswerte, beinah kuipersche Einstellung, dachte Elam.
Sie folgte ihm durch einen engen Schacht in die unterste der beiden besetzten Kapseln. Die Schotts, an denen sie vorbeistiegen, erregten ihre Aufmerksamkeit; gewaltige, stählerne Druckverschlüsse, die im Bruchteil einer Sekunde unbarmherzig zuschnappen konnten. In diesem schrecklichen terrestrischen Roman hatte es eine Passage über eine Maus gegeben, die in eine Falle spaziert war. Elam hatte noch nie eine Maus oder eine Mausefalle gesehen, doch sie glaubte zu wissen, wie sich das Tier gefühlt hatte.
Die Vorsichtsmaßnahmen im Mikrobiologischen Labor, die unter Freemans Aufsicht immer streng beachtet wurden, waren seit dem Unglück noch verschärft worden. Bis auf Weiteres waren alle Proben und Isolate isischer Fauna und Flora als erwiesene Gefährdungen fünften Grades zu behandeln. Im gesicherten Vorraum des Labors legte Elam den vorgeschriebenen Druckanzug samt Klimatornister an. Das Gleiche tat Li; mit dem Kopfgeschirr sah er seltsam aus: hohläugig, melancholisch. Er half ihr durch die vorbereitende Dusche, vorbei an ähnlichen Gestalten, Männern und Frauen, die an Glove-Boxen unterschiedlicher Komplexität arbeiteten, durch einen weiteren mit Luftschleusen gesicherten Vorraum in ein kleineres, unbesetztes Labor.
Elam spürte ein bisschen von der Panik, die sie damals empfunden hatte, als sie im Zuge ihrer Ausbildung zum ersten Mal ein irdisches Viren-Forschungslabor der Sicherheitsstufe fünf betreten hatte. Natürlich war es damals schlimmer gewesen. Sie war eine naive Kuiper-Studentin gewesen, aufgewachsen mit den Schauergeschichten des Crane-Clans über die Schreckensherrschaft der irdischen Seuchen. Die große Kluft zwischen Erde und Kuiper-Kolonien war immer eine biologische gewesen, viel tiefer als der Abgrund tatsächlich breit war. Die Kuiper-Clans hatten eine Quarantäne erzwungen: Jeder, der von der Erde kam, ob Heimkehrer oder Besucher, musste sich von allen terrestrischen Erregern bis hinunter zu Einzellern befreien lassen. Die kuipersche Dekontaminierung war eine mörderische Strapaze und dauerte so lange wie ein Flug vom inneren System ins äußere und zurück. Auf einer bewohnten Kuiperwelt war noch nie eine terrestrische Krankheit ausgebrochen; wäre es passiert, wäre sofort eine Quarantäne verhängt und die fragliche Siedlung dekontaminiert worden — ein Hygieneprotokoll, das auf der dicht besiedelten und größtenteils verarmten Erde undurchführbar gewesen wäre.
Elam war nach der Promotion zur Erde gegangen, so wie sich vielleicht ein engagierter Sozialarbeiter für ein Praktikum in der Leprastation entschieden hätte: mit Berührungsängsten, aber mit den besten Absichten. Gegen alle erdenklichen Mikrophagen, Prionen, Bakterien oder Viren geimpft, war sie trotzdem an einem klassischen ›Fieber unbekannten Ursprungs‹ erkrankt, das den ganzen ersten Monat ihrer Orientierungsphase angehalten hatte, bevor es einer Reihe von Leukozyten-Injektionen gewichen war. Bis dahin war sie noch nie krank gewesen. Krank zu sein, sich mit einem unsichtbaren Parasiten infiziert zu haben, das war… naja, noch schlimmer gewesen als sie gedacht hatte.