Degrandpre nahm seinen Palmtop, rief Zoe Fishers Akte auf und überflog sie noch einmal. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Verbindung mit Theophilus — er war ihr Fallmanager gewesen — gab es keinen Hinweis auf seine geheime Mission. Oder eine von ihr, vorausgesetzt diese Zoe Fisher war in Wirklichkeit so etwas wie eine D&P-Intrigantin. Er konnte sich nicht vorstellen, welche terrestrische Kontroverse sich um das Los eines einzelnen Retortenbabys drehen sollte, trotz all ihrer schönen neuen Technik und ihres linguistischen Geschicks. Doch die Geschichte der Menschheit hatte sich schon um unscheinbarere Angelpunkte gedreht: eine Kugel, eine Mikrobe, ein falsches Wort.
Ruhelos, wie er war, rief er die Leitstelle an; er brauchte eine Aktualisierung der Turingliste. Aus dem Laptop drang eine konfuse Geräuschkulisse, bis Rosa Becker, die für die zweite Schicht verantwortlich war, die Sprechverbindung aufnahm. »Sir, wir haben Probleme mit unserer Telemetrie.«
Degrandpre schloss die Augen. Gott, nein. Bitte. Nicht jetzt. »Mit welcher?«
»Der maritime Außenposten. Kein Empfang mehr. Nichts — wie ausradiert.«
»Ein Satellit ist schuld, ja?«
»Wir sind doppelt und dreifach ausgelegt…« Eine Pause, wieder ein prasselnder Wortwechsel. »Berichtigung. Ein einzelnes Shuttle hat sich von der Laborinsel abgesetzt. An Bord sind Überlebende. Mehr ist nicht.«
»Was soll das heißen: Mehr ist nicht?«
»Der Pilot sagt…« Wieder eine Pause. »Keine anderen Überlebenden. Nur Wrackteile.«
Nur Wrackteile.
Freeman Lis Albtraum war Wirklichkeit geworden.
»Sir?«
Und auch der meine, dachte Degrandpre.
»Der Shuttle bleibt auf unbestimmte Zeit in Quarantäne«, sagte er angesichts der unmittelbaren Bedrohung. Seine persönliche Angst kam gar nicht zum Zuge. »Und alarmieren Sie die anderen Stationen. Alarmstufe eins.«
Doch er hatte bereits das Gefühl, ein toter Mann zu sein.
Das sollte ihr erster Alleingang werden, der letzte Systemtest vor einem eintägigen Ausflug zum Copper River. Tam Hayes verließ seine Arbeit — Genkartographierung der Monozellkulturen — und durchquerte den quadratischen Kernbereich in Richtung Nordflügel, wo Zoe sich bereits in Schale warf.
Seine Gedanken liefen Slalom um Zoes Ausflug und seine Forschungsarbeit. In beiden Fällen gab es weit mehr Rätsel als Gewissheiten. Es würde noch Jahre dauern, bis die isische Zellgenetik einigermaßen verstanden war. Die biochemische Maschinerie war zermürbend komplex. Was sollte man von Organellen halten, die in der Lage waren, ein unabhängiges Leben außerhalb der Mutterzelle zu führen — die sich als Retroviren fortpflanzten? Oder von den hohlen Komplexitäten aus Mikrotubuli ringsherum an den Zellwänden. Jede Frage warf tausend weitere auf, die meisten betrafen die isische Paläobiologie, einen Forschungszweig, der gerade erst geboren war. Abgesehen von zwei glazialen Bohrkernen und Freeman Lis Arbeit mit thermophilen Bakterien gab es keine konkreten Daten, nur Vermutungen. Die ganzen ungebrochenen Jahre evolutionärer Involution hatten offenbar einen uralten Parasitismus tief in den Mechanismus des Lebens hineingezüchtet — jeder Energieaustausch, jede selektive Ionisation, jede Freisetzung von ATP[19] war gleichsam ein versteinerter Akt räuberischen Verhaltens. Komplexe symbiotische Partnerschaften waren entstanden — so wie die Kollision tektonischer Platten Gebirge hervorbringt. Aus dem Konflikt wird Zusammenarbeit; aus dem Chaos Ordnung. Geheimnisse der Schöpfung.
Seine Mutter hatte ihn in die Geheimnisse des Glaubens eingeweiht, hatte ihn jeden Monat mit ins Gotteshaus genommen. Red Thorns und Ice Walkers waren in erster Linie Alt-Deisten, ein Bekenntnis, das sich nicht zuletzt zum Philosophieren bekannte. Die monatliche Predigt war ihm zu hoch gewesen, doch er musste oft an die jährliche Anrufung in der engen Sternwarte denken. Er hatte in diese kalte Kuppel gemusst, um Sterne wie Rosenkranzperlen zu zählen, eingezwängt von den warmen Leibern der Gemeinde, die Stimmen zu Lobliedern vereint, derweil seine Mutter ihn so fest bei der Hand hielt, dass es wehtat. Es war nicht nur seine Schuld, dass er sich in die Sterne verliebt hatte!
Die Red Thorns sahen das anders.
Er betrat den Vorbereitungsraum, wo Zoe sich mit dem Außenanzug abmühte und Tia und Kwame die Ränder verkletteten. Im Kuiper-Gürtel geboren, hatten die beiden es nie gelernt, die terrestrischen Tabus im Umgang mit Nacktheit zu respektieren; sie machten sich offenbar keine Gedanken, warum Zoe unter ihren Berührungen zusammenzuckte. Als sie Hayes erblickte, rief ihre Miene förmlich um Hilfe.
Er schickte die beiden Techniker zum Shuttle-Hangar, wo sie Lee Reisman zur Hand gehen konnten.
»Danke«, sagte Zoe leutselig. »Also wirklich, ich kann das selbst. Der Anzug ist so. Man muss sich nur Zeit lassen.«
»Soll ich auch gehen?«
Sie überlegte einen Augenblick, dann schüttelte sie den Kopf.
»Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie es.«
Sie zog die Gamaschen über, die aktive Membran auf ihrer Haut war so passiv wie Plastikfolie, bis sie Zeit fand, sich den Körperformen anzupassen; dann wurde sie zum punktgenauen, plastischen Relief, pinkrosa durchscheinend, eine zweite Haut. Zoe bückte sich, um die eher konventionellen Hüftstiefel anzuziehen, ihre kleinen Brüste tanzten.
Sie blickte auf, begegnete seinem Blick und bekam einen roten Kopf. Hayes fragte sich, ob er sich abwenden sollte. Wie würde sich ein Terrestrier verhalten?
Sie arbeitete sich mit den Armen durch die hauchdünne Rumpfmembran und sagte etwas, das zu leise war, als dass er es hätte verstehen können. Er räusperte sich. »Wie bitte?«
»Es geht schneller, wenn Sie die Verklettung übernehmen.«
Er kam durch den Raum, ungeduldig, sie berühren zu dürfen, unterdrückte aber die Regung, wo sie doch so leicht erschrak… Er musste drei Säume aus fleischigem Material passgenau verkletten, und zwar hinten in ihrem Kreuz. Er berührte die nackten Grübchen neben dem Abschwung des Rückgrats und empfand eine komische Vertrautheit… sie war praktisch eine Kuiper-Frau, genetisch zumindest; ihr Genom stammte aus dem Bestand, der noch die Asteroiden besiedelt hatte, winterfestes Rohmaterial für eine neue Diaspora… Mit sanften Händen verklettete er den Anzug und sah zu, wie sich die Membran Zoes Formen anpasste, hörte Zoe scharf Luft holen, als sich die schützende Haut um Brüste, Brustwarzen und Halsansatz schmiegte. Ohne Kopfgeschirr und Beckenfutteral sah sie fast nackt aus. Seine Hand verweilte auf ihrem Hüftbein und Zoe fröstelte, ließ ihn aber gewähren.
Doch als er die Hand hob, um ihr Haar zu berühren, duckte sie sich beiseite. Flüsterte: »Da doch nicht.«
»Warum nicht?«
»Nur, wo ich geschützt bin.«
Sie wich seinem Blick aus.
Brauchte sie Schutz? Ertrug sie es nur so? Er fasste sie um die Taille und zog sie näher heran. »Geschützt«, hatte sie gesagt. Geschützt gegen Hautkontakt vermutlich, oder gegen Erinnerungen an solche Kontakte.
Er wollte ihr Kinn anheben und irgendetwas Tröstendes sagen. Vielleicht hätte er es auch getan, wenn die Station nicht Alarm geschlagen hätte.
Zoe rang nach Luft und wich wie von der Tarantel gestochen zurück.
Hayes sah die Blinkmeldung auf seinem Palmtop. Es ging um die Hochseestation. Keine Einzelheiten, aber Neuigkeiten, schlechte offenbar.
Hayes meinte zu spüren, wie die Biosphäre vorrückte.
TEIL ZWEI
Zehn
Zoe war nicht allein im Wald. Sie war immer von insektengroßen Telesensorien und größeren Robotspinnen umgeben; und sie war durch eine umfassende Telemetrie mit Yambuku verbunden… aber sie fühlte sich allein, unsäglich allein, besonders nach Mitternacht.