Das konnte sie von Geburt an — allein sein. Man hatte ihr den Hang zum Einsiedlerischen in die DNS geschrieben, die gleiche Genmanipulation, die die ersten Kuiper-Kolonisten mit hinaus in die Leere jenseits des Neptuns genommen hatten — eine Rasse von Mönchen, die ihre Klausen aus gefrorenen sternhellen Gebirgsstöcken meißelten. Das Alleinsein machte ihr keine Angst.
Was nicht hieß, dass sie keine Angst hatte.
Angst machten ihr andere Dinge.
Nicht allzu lange nach Mitternacht erwachte sie in der Finsternis ihres Zeltes. Das Zelt war eine simple Kuppel aus Polymerschaum, die weniger vor den Elementen schützen sollte — dafür war der Anzug da — als vor Entdeckung. Der Schutzanzug war ein halb offenes System; sie trank und aß aus sterilen Behältern mit selbstdichtenden Mundstücken, aber sie schied die unvermeidlichen Stoffwechselprodukte aus: Urin, Kot und CO2. Prozessoren und Nanobakterien des Anzugs reinigten zwar die Ausscheidungen, doch selbst keimfreier menschlicher Abfall wirkte auf isische Raubtiere wie ein Magnet. Feste und flüssige Abfälle konnten in Behältern vergraben werden, aber Atem und Schweiß waren nicht so leicht aus der Welt zu schaffen. Das Zelt half durch einen langsamen Luftaustausch, wobei es ihren molekularen Fingerabdruck durch Osmose und HEPA-Filter verwischte.
Doch kein System war vollkommen. Der Verlust der Hochseestation vor knapp zehn Tagen war der jüngste unwiderlegbare Beweis dafür. Die Systeme waren unvollkommen oder unvollkommen an die isische Biosphäre angepasst, weshalb nicht von der Hand zu weisen war, dass Zoe eben jetzt nächtliche Räuber anlockte, die dem externen Schutzring entgangen waren.
Zum Beispiel dieses leise hölzerne Prasseln in der Ferne, es konnte der Wind in den Bäumen sein oder auch…
Schwachsinn!
Sie setzte sich auf, war sauer, den Schlaf konnte sie sich abschminken. Es war schon schlimm genug, in einem Anzug dazuliegen, der einem mit akribischer Genauigkeit jede Druckstelle vermittelte, die von Zweigen und Kieseln unter dem Gelboden rührten — aber noch schlimmer war es, sich um Mitternacht vor Angst zu bepinkeln. Eine Phalanx von Robotsensorien bewachte ihre Peripherie und hielt ununterbrochen nach Bewegung oder verräterischen molekularen Kennungen Ausschau; nichts, was größer war als eine Made, kam auch nur in die Nähe des Zeltes. Und das Zelt war vielleicht nicht vollkommen, aber madendicht war es bestimmt.
Zum Teufel also mit den nagenden Ängsten. Sie konnte nicht schlafen, das war alles. Sie zog die schützenden Gamaschen über, öffnete die Zelttür und trat in die windige Düsternis des isischen Zykadeenwaldes[20] hinaus.
Das wenige diffuse Licht rührte von einem Dutzend Sterne über dem Walddach, Futter genug für den Restlichtverstärker des Anzugs. Durch die Irislinsen erschien ihr der Wald wie ein Scherenschnitt von gedrungenen Baumstämmen vor einem diffusen Netzwerk aus unruhigem Laub. Ohne Tiefe, unheimlich. Sie erhöhte die Infrarotempfindlichkeit und hielt nach Wärmequellen Ausschau. Alles, was sie sah, waren ein paar Vögel, die auf Ästen saßen und schliefen, und ein paar ängstliche aasfressende Wühlmäuse, kaum größer als ihr Daumen.
Nichts, was einem den Schlaf rauben konnte. Sie legte wieder den Kopf in den Nacken.
Der hellste Stern war überhaupt kein Stern. Es war ein Planet, den irgendwelche einfallslosen terrestrischen Numerologen kurz nach seiner Entdeckung im vorigen Jahrhundert Chronos genannt hatten. Chronos war der Gasriese des isischen Systems, er war zurzeit am entferntesten Punkt seiner stark elliptischen Bahn. Er hatte zur Geschichte von Isis beigetragen, indem er das System von Eis- und Gesteinstrümmern befreit hatte; Kometen waren eine Seltenheit am isischen Himmel. Chronos war weniger ein Titan[21], dachte Zoe, als ein dicker, fetter Schutzengel.
Ihr Innenohr-Sprechfunk erwachte zum Leben, ein ganz schwaches Rauschen.
»Zoe?« Die Stimme von Tam Hayes. »Deine Telemetrie sagt, du bist nicht im Zelt, und dein Puls ist hoch. Ich nehme an, du bist wach.«
Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie seine Stimme hörte. »Ich bin kein Schlafwandler, wenn du das meinst.«
»Unruhig?«
»Ein bisschen. Ist das schlimm?«
»Nicht schlimm.«
Die Winzigkeit der Stimme brachte ihr die Situation noch schärfer zu Bewusstsein: Sie war völlig allein in einem völlig fremden Wald. Sicher, bis Yambuku war es nicht weit; doch Yambuku war ein hermetisch abgedichtetes Habitat, eine zerbrechliche Erdblase. Sie hatte diese Blase verlassen und sich dieser menschenleeren Wildnis ausgeliefert. Wo es hinter dem nächsten Horizont kein künstliches Licht, keine Straßen, keine Annehmlichkeiten gab. Hinter dem Horizont nur wieder Horizont, Parallaxe gegen Null; nichts zwischen ihr und einer planetengroßen Gefahrenzone fünften Grades als eine Membran, die nur wenige Moleküle dick war. Kein Wunder also, dass Devices & Personnel sich entschieden hatten, ihr Genom aus dem alten Diaspora-Bestand Wiederaufleben zu lassen. Isis war mindestens so einsam wie irgendein gottverlassener Kuiper-Körper. Und viel, viel weiter von zu Hause entfernt.
»Zoe?«
»Ich höre.«
»Wir haben ein großes Tier, vielleicht fünfzig Meter Nordnordwest von deiner Position. Weiter nichts Schlimmes, aber wir wollen ja nicht ›Hier!‹ rufen, also halt dich bitte für ein paar Minuten still.«
»Ins Zelt zurück?«
»Noch nicht, du bleibst beweglich. Obwohl mir wohler wäre, du würdest Bescheid sagen, bevor du rausgehst. Rühr dich einfach nicht vom Fleck, die Roboter wissen, was zu tun ist.«
»Pirscht das Ding sich an?«
»Ist wahrscheinlich nur neugierig. Still jetzt.«
Sie lauschte in die Nacht hinaus, hörte aber nichts. Ein großes Tier? Höchstwahrscheinlich ein Triraptor. Sie stellte sich den Burschen vor: acht Glieder, vier Beine, vier Arme am aufgerichteten Oberkörper und Klauen wie von gehärtetem Stahl. Ihr Anzug war widerstandsfähig genug, um sie vor den Bissen kleiner oder wirbelloser Tiere zu schützen, aber nicht vor dieser blutrünstigen Kampfmaschine.
»Zoe?«
Sie wisperte: »Ich dachte, ich soll still sein.«
»Schon okay, wir dürfen nur nicht laut werden. Mach es dir doch bequem.«
Sie musterte den Boden ringsherum, ortete einen gestürzten Baumstamm und ließ sich darauf nieder. Winzige Insekten aus einem gestörten Nest schwärmten über ihr Schuhwerk. Harmlose Tierchen. Sie ignorierte sie. »Bequem ist gut. Immerhin können wir reden. Schon wieder die Nachtschicht übernommen?«
»Mitternacht bis Tagesanbruch, so lange, wie du draußen bist.«
Sie fühlte sich geschmeichelt, und eingeschüchtert sowieso. Sie hatte daran denken müssen, wie sie Hayes im Vorbereitungsraum begegnet war, wie sie in seinen Armen geweint hatte über die Tragödie auf hoher See und wie sie in jener Nacht zu seiner Kabine gefunden hatte. Daran, wie er sie angefasst hatte, begehrlich aber sanft, wie sie noch nie angefasst worden war…
Und sie hatte es zugelassen.
Hatte ihn ermutigt.
Hatte sich davor gefürchtet.
»Bisschen gruselig da draußen? Dein Puls ist wieder gestiegen.«
Sie wurde rot — was Gott sei Dank niemand sah, es sei denn, die Telemetrie verriet auch das. »Es ist einfach… so düster hier, egal wo du hinguckst.«
»Verstehe.«
Ein Wind aus dem Westen raschelte in den Bäumen. Derselbe Wind trug natürlich ihren Geruch tiefer in den Wald hinein. Nein, denk nicht drüber nach. »Tam?«
»Ja?«
»Du bist doch im Kuiper-Gürtel aufgewachsen. Red Thorn, sagst du?«
»Richtig. Red Thorn ist ein großes Habitat in den Nahen Oorts, das ist eine der ältesten Kuiper-Siedlungen. Dreiviertel-Ge-Rotation um die lange Achse, da musste ich mich nicht lange umstellen.«
21
griechische Mythologie: Chronos, ein Titan, jüngster Sohn des Uranos [Himmel] und der Gaia [Erde].