Der kometenähnliche Körper war hergerichtet für eine Induktionsfeld-Fusion. Weder Zoe noch die Roboter waren sich des Countdowns bewusst, der in den unterkühlten Prozessorbanken von Phoenix tickte. Ausgelöst wurde die Detonation durch Prozessoren in der Nutzlastkapsel, und zwar gleich nachdem die pannensicheren Sequenzen ausgeführt waren.
Es war der dritte interstellare Transfer in diesem Erdjahr, jeder so teuer wie ein nagelneues Kuiper-Habitat oder eine ebenso neue marsianische Luftfarm. Ein messbarer Bruchteil des solaren Bruttosozialprodukts floss in dieses Projekt. Seit den altehrwürdigen Zeiten von Apollo und Sojus war die Erforschung des Alls nicht mehr so schwer zu handhaben und zu finanzieren gewesen wie heute.
Es gab kein Zurück mehr. Mikroschalter, monatelang in der Schwebe gewesen, fielen jetzt in die endgültige Stellung.
Zoe schlief, und falls sie träumte, so nur von einer Bewegung, einer Trennung so archaisch wie das Kalben eines Gletschers.
Das Licht in ihren Träumen war grell.
TEIL EINS
Eins
Bewusstlos in die nahezu fensterlose Orbitalstation von Isis dekantiert, sehnte Zoe sich jetzt nach einem ersten Blick auf ihre neue Welt. Das Verlangen war in der Tat so groß, dass sie einen ernsthaften Bruch des Protokolls erwog.
Auf jeden x-beliebigen Bildschirm ließ sich ein Bild von Isis zaubern, keine Frage. Und solche Bilder hatte sie viele Jahre lang zu sehen bekommen, täglich manchmal — Bilder, die entweder von der IOS[4] nach Sol übertragen oder durch Planeteninterferometrie gewonnen wurden.
Aber das war nicht genug. Sie war jetzt endlich vor Ort: kaum ein paar hundert Kilometer von der Oberfläche entfernt, im niedrigen Orbit. Sie war in einem Augenblick weiter gereist als ein herkömmlicher Raumfahrer zeitlebens reisen konnte. Sie hatte die äußerste Grenze der menschlichen Diaspora erreicht, den schwindelerregenden Rand des Abgrunds, und sie verdiente einen direkten Blick auf den Planeten, der sie so weit hinausgelockt hatte — oder?
Damals hatten die Astronomen vom ›ersten Licht‹ geredet — dem ersten Blick durch ein nagelneues optisches Instrument. Zoe hatte Isis durch allerhand optisches Instrumentarium gesehen, aber noch nie mit bloßen Augen. Jetzt wünschte sie sich diesen direkten Blick, ihr ganz persönliches ›erstes Licht‹.
Stattdessen hatte sie drei Tage im Krankenrevier der IOS unter überflüssiger Beobachtung verbracht und eine Woche lang die ihr zugewiesene Kabine gehütet und auf einen Platz im Dienstplan gewartet. Zehn Tage seit Ankunft: keine Anweisungen, kein Terminplan, nur ein knapper Gruß der Direktion. Bis heute hatte sie nur die freundlichen, konkaven Wände und Stahlböden ihres Kabuffs und ihres Rehazimmers in der Medizinischen gesehen. Die einzigen offiziellen Mitteilungen, die sie bekommen hatte, waren eine Liste der Essenszeiten, ein Zugangscode, ihre Residenznummer und ein Abzeichen mit ihrem Namen.
Folglich nahm Zoe all ihren Mut zusammen und vereinbarte einen Termin mit Kenyon Degrandpre, dem Leiter des Außenpostens. Sie staunte über ihre Unverschämtheit. Wahrscheinlich hätte sie erst mit ihrem Abteilungsleiter reden sollen… doch niemand hatte ihr gesagt, wer das war oder wo er oder sie zu finden war.
Die Isis-Orbitalstation war aus Elementen früher Higgs-Kugeln zusammengesetzt und glich einer Perlenkette. Die Karten an den Korridorwänden erinnerten Zoe an die Darstellungen von Benzolringen in Chemietexten; die Fusionsflaschen des Außenpostens und die Wärmetauscher ragten wie komplexe Nebenketten aus dem symmetrischen Kern. Am Morgen ihres Termins mit Degrandpre verließ Zoe ihre winzige Kabine am Grund von Habitat Sieben und folgte dem Ringkorridor einen Kilometer in Rotationsrichtung, was nahezu der halbe Umfang der IOS war. Im Ringkorridor roch es nach heißem Metall und wiederaufbereiteter Luft, wie in einem Kuiper-Habitat, aber ohne den stets gegenwärtigen Beigeschmack von Eis in der Luft. Schotts dräuten wie massive Fallbeile; die Gänge waren eng und hatten weder Charme noch Fenster. Dieser Ort war nicht so seelenlos und unkultiviert wie Phoenix gewesen war, er war aber auch keine typische Kuiper-Welt, voller Farben und lärmender Kinder. Hier dominierte terrestrische Ästhetik: kompromisslose Funktionalität, erzwungen durch strikte Frachtbeschränkungen.
Fenster waren Luxus, vermutete Zoe. Nach den IOS-Plänen, die sie an ihrem Terminal studiert hatte, hatte das Büro des Projektleiters eines der wenigen zugänglichen Direktsichtfenster; der Keil aus drei Zoll dickem, polarisiertem Glas saß in der Außenwand. Die übrigen Fenster der Station waren winzige Scharten in den Andockbuchten, ein Bereich, zu dem Zoe noch keinen Zutritt hatte. Egal. Sie musste mit Degrandpre reden. Das Fenster war bloß… ein willkommener Nebeneffekt.
Dem Namen nach hätte er durchaus von Adel sein können — gab es nicht Degrandpres unter den brasilianischen Grundbesitzern? —, doch Kenyon Degrandpre war keine gut aussehende oder imposante Erscheinung. Ein Manager von Rang, aber nicht von Adel. Sein Kopf war zu lang, die Nase zu flach. Zoes Erfahrungen mit den oberen Rängen des Kartells hatten sie gelehrt, dass gut aussehende Manager durchaus eine gewisse Großzügigkeit an den Tag legten; unansehnliche — obwohl auch diese Beschreibung nicht ganz auf Degrandpre zutraf, zumindest nicht nach terrestrischem Maßstab —, unansehnliche Männer pochten eher auf Bestimmungen und nährten ihren Groll. Sie wusste hundertprozentig, hatte es immer schon gewusst, dass die Bürokratie des Kartells hauptsächlich aus solchen sturen Zeitgenossen bestand. Aber ein Mann, der eine Isis-Orbitalstation, genau genommen das ganze Isis-Projekt leitete — er musste doch flexibler sein. Oder?
Vielleicht nicht. Degrandpre hob kurz seinen voluminösen Kopf und winkte Zoe zu einem Stuhl, doch er studierte weiterhin den Bildschirm.
Zoe stellte sich stattdessen ans Fenster. Fenster war zu viel gesagt. Vermutlich machten die brutalen Frachtbeschränkungen der Higgs-Schleudern selbst einen so bescheidenen Luxus unerschwinglich teuer. Dennoch, das war jetzt das erste Mal, dass sie den Planeten ohne Umschweife zu Gesicht bekam. Unmittelbares Licht, dachte Zoe aufgeregt. Erstes Licht.
Die IOS hatte eben den Terminator des Planeten überquert. Das flache Licht der Morgendämmerung malte die Wolken in kräftigem Helldunkel. Über der dunklen Zone flackerten Blitze, schwelende Funken auf Samt.
Zoe hatte schon andere Planeten gesehen. Sie hatte die Erde aus dem Orbit gesehen, es gab Gemeinsamkeiten. Sie war ein Jahr lang auf Europa gewesen, um sich mit Drucklaborverfahren vertraut zu machen, und die gigantische Kugel von Jupiter hatte viel mehr Himmel beansprucht und das auf weit eindrucksvollere Weise.
Aber das hier war Isis. Dieses glitzernde Sonnenlicht rührte von einem Stern, der nicht Sol hieß. Hier war eine lebendige Welt, die nie den Abdruck eines nackten Menschenfußes gesehen hatte, eine fremde Welt, die vor Leben strotzte; ein wimmelnder Wassertropfen, der eine fremde Sonne umkreiste. So schön wie die Erde. Und unsäglich tödlicher.
»Gibt es ein Problem«, sagte Degrandpre schließlich, »oder sind Sie wegen des Ausblicks hier? Sie wären nicht der Erste, Bürgerin Fisher.«
Degrandpres Stimme hatte die Schärfe terrestrischer Autorität. Sein Englisch war fein geschliffen. Zoe meinte in den zurückgenommenen Konsonanten einen Hauch von Beijing-Elite-Schule zu hören.
Sie holte Luft. »Ich bin schon seit zehn Tagen hier. Abgesehen vom Reha-Manager auf Habitat Sieben und der Belegschaft der Cafeteria habe ich noch mit keinem Verantwortlichen gesprochen. Ich weiß nicht, bei wem ich mich melden soll. Die Leute, die meine Arbeit direkt beaufsichtigen sollen, sind auf dem Planeten — wo ich eigentlich auch sein sollte.«