Doch Mavrovik gab keine Ruhe. »Da sind sie!« Die Lippen waren mit Blut gesprenkelt. »Da sind sie!«
»Beruhigen Sie sich, Mr. Mavrovik. Nicht reden. Sparen Sie Ihre Kräfte.«
»Es sind so viele!«
Nefford seufzte und zurrte die Riemen fester. Das jetzt war vielleicht — nein, höchstwahrscheinlich — die finale Krise. Er beschleunigte die Zufuhr von Opiaten.
»Sie reden. Alle reden, reden…«
Seit seiner Lehrjahre in Paris war Corbus Nefford nicht mehr bei einem Sterbenden gewesen. Der Tod war Sache der Sterbekliniken und Bauerndoktoren, nicht der erfolgreichen Ärzte adliger Herkunft. Er hatte vergessen, wie haarsträubend dieser Prozess sein konnte. Er schob Mavroviks linkes Augenlid hoch und erwartete eine starre und weite Pupille; stattdessen reagierte die Pupille prompt auf den Lichteinfall und zog sich zusammen. Dann klappte auch das andere Auge auf, und Mavrovik blickte Nefford mit jäher, beängstigender Klarheit an.
»Sie müssen das verstehen«, sagte Mavrovik. Er krächzte die Worte durch eine Klöppelspitze aus rotem Sputum. So reden Tote, dachte Nefford. Der hier war so gut wie tot. »Da sind Tausende, Abertausende. Sie reden miteinander. Reden mit mir!«
Was Nefford in den Bann schlug, war der schiere Ernst in diesen Worten. Er registrierte den abstürzenden Gefäßdruck des Patienten, die erodierten Kapillaren bluteten in Windeseile dem Totalzusammenbruch entgegen. Durch Mavroviks Gesicht liefen blaue und schwarze Streifen, als sei er mit einem Stock verprügelt worden. Das Weiße in seinen Augen war scharlachrot durchschossen. Mavroviks Gehirn musste inzwischen bluten, überlegte Nefford; dieser Monolog hatte weder Hand noch Fuß. Trotzdem hörte er sich fragen: »Abertausende wovon, Mr. Mavrovik?«
»Welten«, sagte Mavrovik ganz ohne Anstrengung, wie zu sich selbst.
Corbus Nefford glaubte natürlich nicht an Gespenster. Er war ein Spezialist von Adel — auf seine Weise ein Wissenschaftler. Nur das gemeine Volk und die Bauern fürchteten sich vor Gespenstern und Geistern. Nefford fürchtete sich nur vor dem Kartell. Er wusste aus eigener Anschauung, was für ein Unheil die Konzerne anrichten konnten.
Nichtsdestoweniger ertappte er sich dabei, den Sterbenden mit einer nahezu abergläubischen Furcht zu betrachten.
Mavrovik lachte — ein entsetzliches, gurgelndes Geräusch unter einer pinkrosa Schaumkrone. Aspirationsgeräte saugten Mund und Kehle aus. Seine Arme wehrten sich gegen die Fesseln, gerade so, als wollte er hochlangen, um Nefford — bzw. Neffords Telesensorium — zu packen und näher heranzuziehen.
Ein grausiger Gedanke.
»Wir sind ihre Waisenkinder!«, erklärte Mavrovik.
Das waren seine letzten Worte.
Etwa um die gleiche Zeit starb auch Raman, friedlicher allerdings. Die Tode brachten eine gewisse Ruhe in das Quarantänemodul, obwohl weiterhin eine hektische Aktivität herrschte — das Entnehmen von Blut- und Gewebeproben, die Eindämmung der Körper, periodische Wolkenbrüche aus flüssigen Desinfektionsmitteln und Gasen.
Als Mavroviks Leichnam endgültig verpackt und fortgeschafft war, gönnte Nefford sich eine kurze Atempause. Dann fuhr er sein Sensorium in die Parkposition und nahm das Kopfgeschirr ab.
Er war so lange mit dem Telesensorium zugange gewesen, dass ihm der eigene Körper geradezu plump und fremd erschien. Die Kleidung war durchgeschwitzt, er rümpfte unwillkürlich die Nase. Was er jetzt brauchte, war ein großes Glas Wasser und ein warmes Bad. Eigentlich hätte er Appetit haben müssen — das Frühstück hatte er verpasst —, doch der Gedanke an Essen war ihm zuwider.
Neben dem Hauptschott wartete Kinsolving. »Haben Sie mit Degrandpre gesprochen?«, fragte Nefford.
»Via Palmtop, ja…«
»Via Palmtop?« Was hier passiert war, schrie nach einer persönlichen Unterredung. Nefford hatte Wichtigeres zu tun gehabt, sonst hätte er…
»Manager Degrandpre wusste bereits von unserer Notlage. Ich bat ihn um eine Unterredung. Aber er hatte bereits angeordnet, die Quarantänezone zu erweitern.« Kinsolving wirkte kleinlaut wie ein geprügelter Hund.
»Die Quarantänezone erweitern? Was soll das heißen?«
»Das ganze Modul ist jetzt abgeschottet.« Kinsolving senkte den Kopf. »Bis auf Weiteres darf hier niemand raus. Auch wir nicht.«
Fünfzehn
Die Träume waren furchtbar.
Der Regen fegte in trommelnden Böen über das Polyplexzelt. Die Packroboter, durch die Windstöße aus dem Konzept gebracht, weckten Zoe regelmäßig auf, weil sie die peitschenden Luftbewegungen für ein gespenstisches Raubtier hielten. Zoe nickte ein und fuhr aus dem Schlaf, nickte ein und fuhr aus dem Schlaf…
Natürlich war sie noch allein. Sie war so allein wie der erste Lungenfisch, der sich aus dem seichten Wasser an Land schleppte. So weit, so gut. Die Männer und Frauen, die als Erste zu den Riffen des Sonnensystems gefahren waren, um ihr Leben in lichtlosen Eishöhlen zu fristen — die waren auch allein gewesen.
Aber Isolation hatte viele Gesichter.
Zoe kannte Leute, die sich nach Einsamkeit sehnten, und solche, die Angst davor hatten. Auf der Erde war man nie richtig allein, und es fiel leicht, ein ganzes Spektrum von Ängsten und Hoffnungen in die unerreichbare Leere zu projizieren, in ein Vakuum, das ›ich‹ sagte. Das Freiheit oder Schamlosigkeit oder Absolution bedeutete oder schlicht den Verzicht auf alle Orientierungshilfen.
Oder das Phantasie bedeutete.
Einsam sein, dachte Zoe, heißt dem Regen lauschen, der die dünne Membran zwischen ihr und der toxischen Natur geißelte. Einsam sein heißt, dass sich Erinnerungen zu Nachtmahren aufblähen.
In ihren Träumen war sie in Teheran.
Wenn es nach den Konzernärzten ging, dann hätten diese Erinnerungen ein für alle Mal gebannt sein müssen. Doch was immer mit ihr nicht stimmte, schien diesen Bann gebrochen zu haben. Immer, wenn sie die Augen schloss, stürmten diese schrecklichen Bilder auf sie ein.
Die Waisenkrippe war ein Kerker aus Schlackenstein, der sich über ein weites Areal aus öligem Schotter erstreckte und von tödlichen Glasdrahtzäunen umgeben war. Dieser Komplex war wie die meisten der über Asien und Europa verstreuten Wohlfahrtseinrichtungen ein Relikt aus dem Jahrhundert der Seuchen. Vielleicht war das Heim früher einmal ein menschenfreundliches Unterfangen gewesen, eine der sozialen Großtaten der ersten Konzerne, doch es war zu einem Nachwuchsbecken für die staatlichen Bordelle verkommen. In jüngster Zeit hatten seine Betreiber bemerkt, dass sie ihren ganz persönlichen Profit maximieren konnten, wenn sie ihre Schützlinge auf dem öffentlichen Markt anboten, genau genommen auf dem Teil des Marktes, der zu verarmt oder krank war, um die lizensierten Vergnügungspaläste zu konsultieren.
Der Nachteil war, dass die Insassen des Tehran West Quad Educational Collective — wie es über dem Tor hieß — nicht in den Genuss jener medizinischen Prophylaxe kamen, die selbst für Niedrigpreisabteilungen lizensierter Bordelle vorgeschrieben war. Dasselbe galt für die Kundschaft, hauptsächlich Handwerker aus den sorgfältig abgeschirmten Konzernfabriken am Rande der Stadt.
Zoe war zusammen mit ihren genetisch identischen Geschwistern, also mit Francesca und Poe und Avita und Lin, per Orbitalfrachter von ihrer Geburtskrippe nach Teheran gebracht worden. Hungrig und verwirrt waren sie dort eingetroffen. Zuerst hatte das Farsi sprechende Kindermädchen sie mit Proteinsuppen gefüttert, sie in warme wenn auch lieblose Kittelkleidchen gesteckt und geduldig ihre endlosen Ich-will-aber-nach-Hause-Tiraden ertragen. Doch nach ein, zwei Tagen wurden sie bereits in die Schlafsäle überstellt.
Und das Martyrium nahm seinen Lauf.