Das Erinnern fegte wie ein Wintersturm durch ihre Träume.
Alle wurden sie sexuell missbraucht und alle starben.
Zuerst starb Francesca, das Fieber hatte fünf lange Februartage gebraucht, um sie zu Grunde zu richten, dann hatte sie ihren ausgemergelten Leib zur Steinwand gedreht und einfach zu atmen aufgehört.
Das kann nicht sein, hatte Zoe gedacht. Wir sollten doch zu den Sternen fahren. Das kann nicht sein.
Poe und Lin starben, als eine ansteckende hämorrhagische Krankheit — die Kindermädchen sagten Brazzaville 3 dazu — in den Schlafsälen wütete. Zoe hatte in ihrer Verzweiflung gar nicht viel Leid beim Tod von Francesca, Poe und Lin empfunden. Sie war sogar dankbar gewesen, als das Gewerbe aus schierer Angst vor einer Seuche gesundgeschrumpft wurde. Leider schrumpften auch die Küchenvorräte, und das war gar nicht gut. Von Quarantäne war die Rede; das ganze Westviertel war wie ausgestorben.
Nach sechs Monaten gab die Krankheit auf. Zoe und Avita blieben verschont.
Zoe rückte näher an ihre einzige verbleibende Schwester heran; als dann Avita mehr zufällig einer Krankheit erlag, die sich aus Unterernährung und Vernachlässigung ergab, da war sie erschüttert. Sie ist mein Spiegel, dachte Zoe, die stundenlang auf Avita stierte, bis die Hygienebeauftragten kamen, um die Leiche wegzuschaffen. Wenn ich sterbe, dachte Zoe — und das war ja nur eine Frage von Monaten —, wenn ich sterbe, dann will ich so aussehen wie sie. Wie eine Statue aus Lehm, blass und glänzend und teilnahmslos.
Sie vermisste Avita und Francesca und Lin und Poe. Die anderen Insassen waren oft grausam zu ihr, und die weiß maskierten Aufseherinnen begegneten ihr mit freimütiger Verachtung; den Tod fand sie gar nicht mehr so schrecklich, nein wirklich, der Tod konnte nicht schlimmer sein als in diesen Wänden fortzuleben.
Dann kam Theo nach Teheran.
Es war etwas passiert, etwas Politisches, etwas in den Hochfamilien. Sie kannte Avrion Theophilus von der Krippe her. Er hatte jeden Monat vorbeigeschaut, um nach den D&P-Viellingen zu sehen; er hatte eine Schwäche für die fünf kleinen Schwestern gehabt und Zoe oft übers Haar gestrichen, derweil die Kindermädchen sich vor ihm duckten und man ihm stumpfsinnige Roboter mit Tee und Zuckerplätzchen schickte — Zoe wusste noch, wie sie geschmeckt hatten. In seiner schwarzen Uniform hatte er immer so strahlend ausgesehen und strahlend sah er auch jetzt aus, in Teheran, aber auch dunkler, ärgerlicher, fuhr die Betreuer an, die vor ihm zurückwichen. Er wetterte über die Widerwärtigkeiten des Schlafsaals, die eiskalten Duschen und die ›gewerblichen‹ Räume mit ihren groben Decken und schmutzigen Matratzen.
Er schwenkte Zoe und nahm sie in die Arme — vorsichtig, denn sie war zerbrechlich geworden. Die Uniform an ihrer Wange roch nach frischer Wäsche, nach Seifenpulver und Dampfpresse.
Er war in ihren Augen so etwas wie ein König oder Prinz. War er natürlich nicht — überhaupt gehörte er nur periphär zu den Familien, der Vetter eines Neffen eines Vetters, aber immerhin ein hoher Funktionär bei Devices & Personnel. Er war ein Theophilus, kein Melloch oder Quantrill oder Mitsubishi. Aber das machte nichts. Er war gekommen, um sie hier rauszuholen. Zu spät für Poe und Lin und Avita und Francesca. Aber nicht zu spät für Zoe.
»Eins von meinen Mädchen hat überlebt«, murmelte er und brachte sie hinaus in eine Mobilklinik des Departments für Gesundheit und Soziales. »Eins von meinen Mädchen hat überlebt.«
Als er sie den Ärzten übergeben wollte, da hatte sie sich an ihn geklammert und erst losgelassen, nachdem man sie ruhig gestellt hatte.
Zoe fuhr jählings aus dem Schlaf, sie war zu Tode erschrocken… doch es war bloß das kehlige Schnarren eines Gewitters, das zwischen den hohen Gipfeln der Copper Mountains hin und her geworfen wurde. Der Regen war kaum noch zu hören.
Trübes Licht sickerte in das Polyplexzelt. Es war Morgen.
Sie war fahrig und unausgeschlafen. Sie öffnete das Zelt und bückte sich in den Nieselregen hinaus. Das Wasser kam in Schlieren von den Granitfelsen und badete die stechginsterartigen Sträucher in den tiefen glazialen Klippen. Die Packroboter boten ein komisches Bild: Sie staksten und schlingerten auf dem Lagerplatz umher und ließen die Beine, die in der Nässe nicht immer den nötigen Widerstand fanden, von Zeit zu Zeit einknicken, um sich wie müde Hunde auszuruhen.
Unstete Nebelschwaden zogen bergan. Der Wald dampfte.
Sie langte nach einer Tagesration aus dem ›Bauchladen‹ des nächstbesten Roboters und ging ins Zelt zurück. Der Regen bildete Perlen auf ihrem Anzug. Es juckte darunter. Die Membran besorgte die Körperpflege, beförderte sogar die Hautschuppen nach draußen, um sie als keimfreien Staub freizusetzen; trotzdem war da dieses Jucken. Der Juckreiz kam und ging, war auf Rippen und Oberschenkel beschränkt und war kein wirkliches Problem — noch nicht. Wenn es allerdings schlimmer wurde… naja, es sollte vorgekommen sein, dass Leute sich blutig gekratzt hatten, um einen Juckreiz zu beseitigen. Was unter den gegebenen Umständen nicht möglich war. Und sowieso nicht funktionierte.
Essen war eine umständliche Prozedur. Die Tube musste mit der Gesichtsmaske des Anzugs verbunden werden, wodurch ein keimfreier Durchlass zum Mund entstand — die Nahrungsaufnahme gestaltete sich quälend langsam. Zoe drückte die Tube von Hand zusammen. Die Paste, die auf ihre Zunge kroch, war ausgesprochen unappetitlich und so amorph wie Schlamm. Und das Quantum war so klein, dass sie nie das Gefühl hatte, wirklich etwas gegessen zu haben.
Die Verdauung hatte allzu leichtes Spiel mit den Rationen, was Zoe mit einem weiteren nervtötenden Problem konfrontierte.
Bis sie mit alledem fertig war, hatte der Himmel schon aufgeklart. Der Wind war allerdings wieder böig geworden; er zerrte an den Polyplexplanen und würde Robotern und Telesensorien zweifellos zu schaffen machen.
Sie überlegte, ob sie Yambuku rufen sollte. Ihr ›Handshake‹ war fällig.
Sie dachte über Theo nach, daran, wie er sie aus dem Waisenheim gerettet hatte, Erinnerungen, die wie Glasscherben durch ihre Träume purzelten…
Und an ihre unerfindliche Angst vor ihm.
Sie rief Yambuku und bat um das tägliche Update; Cai Connor, der Diensthabende am Kontrollpult, fasste sich kurz. Nichts Neues und nicht von der Stelle rühren: Der Wind würde sich über Nacht legen und dann könne sie immer noch die Gräberkolonie erkunden, bevor sie sich auf den Rückweg mache.
Was okay war, aber auch hieß, dass sie nichts weiter zu tun hatte, als ihre eigenen Messgeräte zu überwachen, die Funktionstüchtigkeit der Packroboter zu testen und zuzusehen, wie die Kumuluswolken Kränze um die fernen Gipfel flochten.
Der Finsternis einer weiteren Nacht sah sie mit gemischten Gefühlen entgegen.
Im Laufe des Nachmittags meldete sich Tam Hayes per Schmalstrahl. Das war einigermaßen seltsam. Die Punktstrahlantenne war für den äußersten Notfall reserviert, auf Blickrichtung und schmale Bandbreite beschränkt. Eine sperrige nur-audio Verbindung, uralte Telephonie im Grunde.
»Das ist inoffiziell«, begann Hayes. »Niemand hört mit und nichts, was wir sagen, kommt in den Zentralspeicher. Zoe, bist du an einem sicheren Ort? Ich bin im Shuttlehangar; ich habe kein Telesensorium.«
»Sitze im Zelt und warte, dass der Wind sich endlich legt.«
»Gut. Wir haben eine Menge zu reden.«
»Du fängst an«, sagte Zoe.
Zuerst las er ihr den Brief von Elam Mather vor.
Über manches hatte sie selbst schon gegrübelt. Vor allem über den Thymostaten. »Aber als ich von Phoenix fort bin, da muss er noch funktioniert haben. Die medizinische Kontrolle war extrem pingelig.«