Sie dachte an Anna Chopra, die terrestrische Ärztin, die in den langen Vorlaufmonaten ihren Gesundheitszustand überwacht hatte. Eine groß gewachsene Frau, graues Haar, eine nicht-adlige Funktionärin aus… ja, aus Djakarta. Grimmig und wortkarg und ziemlich engagiert.
»Vielleicht ein Sabotageakt«, mutmaßte Hayes. »Irgendein Revierkampf zwischen Familien, der hier sichtbar wird.«
Gut möglich, aber Familienfehden waren selten so raffiniert eingefädelt. Wohl doch eher eine Panne.
»Es geht mir darum«, fuhr Hayes fort, »dass du da draußen nicht allein sein solltest — nicht mit einem kaputten Thymo.«
»Wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, dann hättest du auch über Breitband gehen können.«
»Dachte, vielleicht willst du das lieber für dich behalten.«
»Vielleicht will ich ja so bleiben. Unreguliert. Wie eine Kuiper-Frau.«
Feines weißes Rauschen. »Ja«, sagte er schließlich, »vielleicht. Das liegt natürlich bei dir, Zoe.«
Bei mir, dachte sie. Ich kann es mir aussuchen.
Aber es warf zu viele Fragen auf. Ein Thymostat regulierte die Persönlichkeit: Bin ich noch dieselbe Person, die ich vor drei Monaten war?
Gar nicht so leicht, dachte Zoe, aus sich herauszutreten, sich kritisch zu betrachten und dann ein Urteil zu fällen. Ging es ihr nun besser oder ging es ihr schlechter? Sie sagte zu Hayes: »Du musst dich doch gewundert haben…«
»Manchmal, ja, aber ich bin ein Red Thom; wir tragen keine Thymostaten und ich war mir nie sicher, was von Leuten zu erwarten ist, die welche tragen. Elam war mal für längere Zeit auf der Erde; sie kannte sich da besser aus.«
»Es gibt verschiedene Sorten von Thymostaten. Sie regeln in erster Linie die Stimmung, aber der meine tat mehr, Tam. Er unterdrückte unerfreuliche Erinnerungen. Er verdrängte auch sexuelle Impulse und lenkte diese Energie in meine Arbeit.«
»Aber du kommst doch gut zurecht.«
Sie musste sich vergegenwärtigen, dass keiner sie hören konnte. Niemand außer Tam. »Ich stehe immer auf der Kippe, Tam. Ich schlafe nicht mehr richtig. Ich bin launisch. Manchmal kommt mir der ganze Ausflug hier so sinnlos vor. Sinnlos und gefährlich. Manchmal… ist mir angst und bange.«
Wieder das feine weiße Rauschen. Der Wind rüttelte am Zelt.
»Zoe, wir haben medizinischen Ersatz. Wir können dich wieder auf Vordermann bringen.«
»Nein. Das will ich nicht.«
»Bist du sicher?«
»Nichts ist sicher. Aber ich will nicht mehr so sein… wie ich mal war.«
Wie Theo mich haben wollte. Und das Kartell.
Hayes sagte: »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um es zu vertuschen. Gefährlich wird es, wenn Avrion Theophilus einen Blick in deine medizinische Telemetrie wirft und von alleine draufkommt.«
Besser so, als ihm unter die Augen treten, dachte Zoe. Ein Blick, und er würde Bescheid wissen. Ihre Augen würden sie verraten.
»Jedenfalls bist du nicht in der Verfassung, um noch einen Tag draußen zu bleiben. Ich will dich hier haben, wo ich auf dich aufpassen kann.«
»Nein«, sagte Zoe. »Das hier möchte ich zu Ende bringen.«
»Es ist nicht bloß der Thymo. Es könnte sein, dass wir gezwungen sind, die Station zu räumen.«
»Wie, Yambuku aufgeben? Tam, ist es wirklich so schlimm?«
»Die Dinge ändern sich rasch.«
Er beschrieb ihr die Serie von Dichtungspannen und Filterproblemen. Alles zerbröselt, dachte Zoe. Alles fällt auseinander. »Gib mir einen Tag zum Nachdenken.«
»Jeder Tag ist riskant.«
»Alles, was wir hier tun, ist riskant. Gib mir einen Tag, Tam.«
»Du musst nichts beweisen.«
»Den einen Tag.«
Ein frischer sintflutartiger Regen beutelte das Zelt. Sie stellte sich vor, wie sich die Roboter draußen an den glitschigen Boden kauerten. Konnten Roboter leiden? Unter der Nässe, der Kälte? Taten ihnen die verkapselten Gelenke weh?
»Zoe, ich bekomme eben einen dringenden Ruf. Wir reden später.«
Hoffentlich bald. Ohne seine Stimme fühlte sie sich doppelt einsam.
Im Laufe des Tages flauten die Sturmböen ab, und es kam eine kühle Westbrise auf. Im geschützten Kern von Yambuku hatte sie sich alle möglichen Wetterkonstellationen angesehen — aber nur wenn man sich dem Wetter auch aussetzte, gab es all seine Launen und Feinheiten preis.
Oder war sie durch den Ausfall des Thymostaten sensibler geworden?
Verletzlicher?
Erlebte so der unregulierte Pöbel die Welt? Wo sie auch hinsah, schien sie einen Schatten oder ein Echo ihrer selbst zu entdecken. In den schäumenden Bäumen, den Wasserkaskaden von Blatt zu Blatt; den trüben Reflexen auf dem triefnassen Stechginster, im Funkeln des Glimmer. Lauter Spiegel.
Wir werden nicht mit einer Seele geboren, dachte Zoe; sie dringt von außen in uns ein, geboren aus Schatten und Licht, aus Mittag und Mitternacht.
Sie fragte sich, ob Theo schon gelandet war; vielleicht durchlief er bereits die Dekontamination.
Hatte Theo eine Seele? Hatte sich in dem vollkommenen Körper eines Avrion Theophilus je eine Seele eingenistet?
Im Laufe des Nachmittags erkundete sie ihre nähere Umgebung; obwohl der Lagerplatz weniger als einen Kilometer von der Gräberkolonie entfernt war, bekam sie keines der Wesen zu Gesicht. Sie mied ihr Nahrungsrevier, auch ihren Friedhof. Sie wollte sie nicht verschrecken; nur vielleicht einen Hauch ihres Geruchs hinterlassen, ein Zeichen ihrer Anwesenheit.
Bevor die Sonne auch nur Anstalten machte unterzugehen, traf sie mit ihrem Gefolge aus spinnenähnlichen Robotern wieder im Lager ein. Die Maschinen waren voller Schlammspritzer und trugen Schleifspuren aus gelben Pollen. Eine hinkte erbärmlich hinterher. Eine mechanische Störung, die unterwegs eingetreten war.
Zoe hatte sich in ihr Zelt zurückgezogen, schaltete ihr Hornhautdisplay um und ließ ihre medizinische Telemetrie Revue passieren, dann ließ sie sich vom Sanitätsroboter ein Analgetikum gegen verschiedene Wehwehchen und den Juckreiz geben.
Ein hoher Anteil an Korpuskeln in der Luft — von Waldbränden tief im Westen — führte zu einem ausgedehnten und farbenprächtigen Sonnenuntergang. Zoe tippte ein paar Notizen in ihr Logbuch, absolvierte ihr ›Farewell‹ mit Yambuku und versuchte aufs Neue zu schlafen.
Ein Alarm riss sie knapp nach Mitternacht aus dem Schlaf. Sie saß, Tams Stimme im Ohr, in der orientierungslosen Finsternis: »Zoe?«
»Ja, hier bin ich, ich suche die Lampe…« Sie fand die winzige SB-Lampe[23] neben ihrem ausgerollten Bettzeug. Eine so genannte Glühwürmchenlampe. Die heller auch nicht war.
Hayes fuhr fort: »Wir bekommen größere Fehlfunktionen bei deinen Robotern gemeldet — zwei Packroboter sind gestört und drei Grenzwachen.«
»Wurden sie angegriffen?«
»Anscheinend nur mechanische Probleme, aber ein Zufall ist das nicht. Ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit.«
»Hardware-Probleme? Bist du sicher?«
»Rein mechanisch.«
»Ich hole Werkzeug und schalte ein paar Außenleuchten ein. Wo sind die Roboter jetzt?«
»Vor deinem Zelt. Wir haben sie sofort aus dem Verkehr gezogen. Zoe, jetzt bekommen wir merkwürdige Telemetrie von den übrigen Grenzwachen.«
»Bekomme ich Gesellschaft?«
»Schwer zu sagen. Nichts Großes. Wir haben Sensorien, die für die Roboter einspringen. Aber halt die Augen offen, hörst du?«
Die Luft draußen war frisch und feucht. Ein paar Sterne schmückten den Himmel. Der Unauffällige hoch oben in nördlicher Richtung war Sol, wenn Zoe die isischen Sternbilder noch richtig erinnerte. Chronos ritt auf dem dunstigen Horizont.