Die Hochseestation war bereits kollabiert. Die Polarstation, verankert in der Eiswüste der nördlichen Polkappe, meldete keine besonderen Vorkommnisse und fuhr fort, von der Hand in den Mund zu leben.
Yambuku allerdings stand am Rande des totalen Zusammenbruchs.
Avrion Theophilus stürmte aus der Dekontamination durch die Schotts des Shuttlebereichs, vergaß alle Regeln der Höflichkeit und marschierte direkt zur Teleleitstelle von Yambuku.
Seine Galauniform von Devices & Personnel zog ein paar Blicke auf sich. Er hatte sich daran gewöhnt, zumindest wenn es sich um Kuiper-Leute handelte. In der zivilisierten Welt galt es als tölpelhaft, diesem bäuerlichen Impuls zu folgen. Doch Yambuku war nicht die zivilisierte Welt.
Er stieß beinahe mit Tam Hayes, dem leitenden Manager, zusammen, der eben von einer längeren telesensorischen Sitzung kam. Hayes sah erschöpft aus, war nicht rasiert. Theophilus nahm ihn beiseite. »Wo können wir reden?«
»Sie ist also verletzt«, sagte Theophilus.
»Wie es aussieht.«
»Wir haben keine Verbindung.«
»Keine Verbale. Wir empfangen noch Telemetrie, aber mit Unterbrechungen. Das könnte an unserer Antennenanlage liegen. Die Telesensorien sind ausgefallen, und die Roboter sind tot. Ausnahmslos.«
»Aber Zoe nicht.«
»Nein. So viel wir wissen, nicht.«
»Wir haben also gute Telemetrie bis zum Augenblick des Angriffs?«
»Ja.«
»Weitergeleitet zur Erde?«
»Weitergeleitet zur IOS. Degrandpre kontrolliert den Datenstrom zur Erde.«
»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen.«
Hayes blinzelte. »Da hab ich ganz andere, das können Sie mir glauben.«
»Haben die Satelliten sie lokalisiert?«
»Ganz dicht an der Gräberkolonie, aber es ist zu bewölkt für eine visuelle Bestätigung.«
»Nicht so gut«, sagte Theophilus.
Sie erreichten die Shuttle-Kontrollkabine über dem Kern von Yambuku. Sie war nur beim Starten besetzt — wie geschaffen für ein Gespräch unter vier Augen. Hayes stand auf heißen Kohlen; Zoe lebte, und er wollte sie zurück nach Yambuku holen. Avrion Theophilus war im Moment nur ein lästiges Hindernis und angesichts der gebieterischen Art des Mannes ballte Hayes die Fäuste.
Er sagte: »Sind sie besorgt wegen Zoe oder wegen ihres Equipments?«
»Das Equipment hat mit summa cum laude bestanden, finden Sie nicht? Die Tatsache, dass sie den Angriff einer Bestie überlebt hat, spricht doch für sich.«
»Ich meine, wenn Sie wegen Zoe besorgt sind, dann sollte ich mich jetzt besser darum kümmern, sie zurückzuholen.«
»Die neue Technik, Dr. Hayes, sie manifestiert sich nicht nur in diesem Anzug.«
»Wie bitte?«
»Zoe ist sozusagen ein Paket. Es geht nicht bloß um das Interface. Sie ist intern optimiert, verstehen Sie? Sie verfügt über ein künstliches Immunsystem, das ihrem natürlichen aufgepfropft ist. Mikroskopisch kleine Nanofabriken liegen an ihrer Bauchaorta. Falls der Anzug leck ist, müssen wir das unbedingt wissen. Wir können noch viel von ihr lernen, selbst wenn sie uns da draußen stirbt.«
»Heißt das, sie könnte womöglich überleben, auch wenn der Anzug nicht mehr dicht ist?«
»Eine Zeit lang, durchaus. Unter den gegebenen Umständen könnte es zum Problem werden, ihre Leiche zu bergen. Aber wenn wir…«
»Scheren Sie sich zum Teufel!«, sagte Hayes.
Er wollte nicht ihre Leiche bergen. Er hatte eine bessere Idee.
Dieter Franklin kam in den Bereitstellungsraum, wo Hayes sich mit seiner Montur abmühte.
Die Standardrüstung war klobig und ein Ungetüm im Vergleich zu Zoes Anzug. Ein steriler Kern, umhüllt von Stahl und Flexiglas und Nanofiltern. Hayes hatte eben die massiven Gamaschen versiegelt, als das innere Schott aufglitt.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Franklin. »Lee Reisman meinte, du würdest von einer Bergungsaktion phantasieren. So dumm wärst du nicht, hab ich gesagt. Sag mir, dass ich nicht gelogen hab.«
»Ich hole sie zurück.«
»Nun mach mal halblang! Du willst den Copper überqueren in einer Rüstung, die — falls sie einwandfrei funktioniert — höchstens für zwei Tage reicht. Und das in einer Situation, wo jede Maschine, die draußen war, entweder den Geist aufgegeben hat oder verrückt spielt, in einer Situation, wo wir nicht mal die eigenen Dichtungen in Schuss halten können.«
»Sie ist am Leben, sie ist vielleicht verletzt.«
»Wenn sie noch lebt, braucht sie eine intakte Bodenstation, zu der sie zurück kann. Hier kannst du ihr mehr nützen. Nicht da draußen im Schlamm mit einem heißgelaufenen Servomotor, wo du uns, was noch schlimmer ist, nicht aus dem Kopf gehst — wo du mehr Ressourcen verschlingst, als wir uns leisten können.«
»Ich bin es ihr schuldig…«
»Du schuldest ihr keinen Selbstmord. Und nichts anderes wird das, das weißt du. Wahrscheinlich wirst du als Kompost in einem geknackten Stahltresor enden. Und Zoe wird genau da enden, wo sie gerade ist.«
Hayes wickelte sich eine Lage Isoliermaterial um die Taille, zwang sich zur Ruhe, um das, was er machte, auch richtig zu machen. »Sie war eine Art Testpilot, Dieter. D&P interessieren sich einen Scheißdreck für die Gräber. Zoe dachte, sie war hier, um soziale Studien zu treiben, dabei war sie bloß ein gottverdammter Testpilot.«
Dieter Franklin nickte bedächtig. »Testpilot für den neuen Außenanzug. Wie Elam vermutete.«
»Elam hat es geahnt. Aber ich wusste es.«
Franklin schwieg. Hayes versuchte, sich auf seinen Biopanzer zu konzentrieren, werkelte sich durch die Prozeduren, versiegelte die Brustbänder aus pneumostatischem Kunststoff. Er wünschte, Elam wäre da und könnte mit ihm die Checkliste durchgehen.
»Sie wussten es?«
»Ich habe alle D&P-Memos gesehen. Kurze Kommunikees an den Yambuku-Manager. Keine Einzelheiten, aber so viel, dass ich hätte merken müssen, dass nur ihr Equipment zählt. Sie war ein gottverdammter Testpilot, Dieter, und ich hab sie da rausgehen lassen in ihrer ganzen glorreichen Naivität.«
»Überleg doch mal. Das Equipment ist gut, aber nicht unzerstörbar. Wer sagt uns, dass sie noch am Leben ist?«
Jetzt der weiche Innenhelm. »Sie hat nicht nur den Anzug. Sie selbst ist auch modifiziert, innerlich. Sie verfügt über ein enorm verbessertes Immunsystem. Kann sein, dass wir sie noch lebend bergen können, selbst wenn der Anzug beschädigt ist. Vielleicht überlebt sie ja.«
Dieter Franklin sagte lange nichts.
Dann: »Selbst wenn, Tam. Wir haben schlechte Karten.«
»Ich weiß, dass wir schlechte Karten haben.«
»Weil es schon bald kein Yambuku mehr gibt. Keiner will es wahrhaben. Erst die Laborinsel, jetzt Marburg. Es ist die Biosphäre, Tam, sie entwickelt Strategien, lernt, wie man Dichtungen verdaut, Schleusen zerstört. Mixt aggressive Agenzien und verbreitet die Rezeptur und greift bei Bedarf in die kollektive Trickkiste. Vor fünf Jahren noch war dieser Biopanzer gut genug, um uns zu schützen. Heute… ist er kaum noch zu gebrauchen.«
Hayes aktivierte die Luftschleuse. Über ihren Köpfen begannen die Ventilatoren positiven Druck zu erzeugen. Ein Alarm jaulte. Dieter Franklin nahm Reißaus.