Hayes stülpte den Helm über.
Achtzehn
Schmerz. Sie sah doppelt. Sie wurde über den Boden geschleift, die Stiefelabsätze schlugen hin und her. Entweder habe ich eine Gehirnerschütterung, dachte sie verschwommen, oder schlimmer noch eine Schädelverletzung, von der ich mich nicht mehr erholen werde. Sie roch die unmöglichsten Dinge: schwelendes Gummi, Ammoniak, Fäulnis; und wenn sie die Augen schloss, sah sie Windrädchen und Leuchtfeuer.
Sie ekelte sich schrecklich, wagte aber nicht, sich zu übergeben. Der Anzug würde die Schweinerei zwar verarbeiten, aber vielleicht nicht rasch genug.
Sie war wach oder vielleicht doch nicht: die Besinnung verebbte; die Zeit verlor sich in Böen, wie der Wind.
Sie wehrte sich — kurz nur — als sie bemerkte, dass die Gräber sie in einen ihrer Erdhügel schleppten, aus dem Sternenlicht und aus dem Feuerschein heraus in eine steinige klaustrophobische Düsternis.
Der Eingang war eng. Die Gräber streckten ihre widerlich beweglichen Leiber und flutschten einer nach dem anderen hinterher; hilflos, wie sie war, wurde Zoe an den gestreckten Armen über die kantige Schwelle in einen Tunnel geschleift, der von Exkrementen verkrustet war. Ein fremder Gestank hing in der Luft, würzig und faulig zugleich, wie eine Mischung aus Kardamom und Verwesung. Musste sie hier ersticken? In der Dunkelheit?
Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Zoe so etwas wie Panik.
Selbst in den kalten Schlafsälen des Waisenheims hatte sie keine Angst gehabt; der Thymostat hatte jede heftige Emotion unterdrückt und ihr nichts als eine hohle, allgegenwärtige Traurigkeit gelassen, die schmerzliche Gewissheit von Gefangenschaft und Ausgeliefertsein. Was sie jetzt spürte, war schlimmer. Sich zu wehren, war zwecklos, aber sie kam nicht umhin. Der Zwang sich zu wehren löschte das Denken aus, wurde zu einer Wut, die aus dem Fleisch kam. Sie wollte den Schrei unterdrücken, der sich aus ihrer Brust rang, doch die Anstrengung war vergeblich; er brach sich Bahn und wollte kein Ende nehmen, gegen ihren Willen und alle Vernunft. Sie strampelte und bäumte sich in den korallenscharfen Klauen, die ihre Handgelenke und Fesseln umspannten. Aber diese Tiere waren unverschämt stark. Auch der letzte Schimmer von Licht verschwand. Jetzt gab es nur noch Finsternis und zwanghafte Bewegungen und die Enge des Tunnels. Und ihr Schluchzen.
Einsam und von Panik entkräftet wachte sie auf.
War sie blind? Nein. Das war nur die Finsternis im Innern eines Erdhügels. Draußen konnte es Mittag oder Mitternacht sein. Hier drinnen war ewige Finsternis.
Aber sie war wenigstens allein, im Augenblick zumindest. Sie rührte sich, streckte sich versuchsweise… registrierte knapp über ihrem Kopf eine steinige Decke, die sich in die armweit entfernten Wänden krümmte. Der Boden hier war irgendwie weicher (und feuchter) als am Eingang. Die Stille hämmerte in den Ohren. Die einzigen Geräusche waren das Rasseln ihres Atems im Anzugfilter und das Raspeln ihrer Bewegungen. Wenn sie doch nur eine Lampe…
Aber die hatte sie doch! Mehrere sogar: die Glühwürmchenlampen an ihrem Werkzeuggürtel.
Zu blöd. Da härmte sie sich in der Finsternis, dabei hätte sie Licht machen können! Beinah ängstlich befingerte sie den Gürtel und tatsächlich waren einige der kleinen Lampen bei ihrem Tobsuchtsanfall verloren gegangen, aber nicht alle; sie waren so klein wie Gewehrpatronen und trugen im Schaft einen Aktivator. Sie zog eine heraus und schnippte sie an.
Der Lichtschein war hauchzart aber ein Geschenk des Himmels. Die Orientierung war wiederhergestellt: Sie befand sich an einem Ort mit Konturen und Proportionen — in einem gewölbten, vor Feuchtigkeit glitzernden Hohlraum aus fest gepackter Erde. Durch das blasse, beinah durchscheinende Geflecht am Boden krabbelten kleine, mit Mandibeln bewehrte Insekten und an der Wand dräute das gazeartige Nest einer spinnenähnlichen Kreatur, eine Masse wie aus Seidenbaumwolle, in der Dutzende vertrocknete Insektenkadaver hingen.
Eine Glühwürmchenlampe reichte für ein, zwei Stunden. Am Gürtel saßen noch sieben Stück; sie hatte mit den Fingern nachgezählt. Sie musste haushalten.
Andererseits konnte sie unmöglich hier bleiben. Auch nicht, wenn sie gewollt hätte. Keine Nahrung. Kein Wasser. Der Anzug, der auch ihren Urin recycelte, verfügte normalerweise über eine kleine Wasserreserve; das Ganze war aber eine offene Schleife und würde ohne Nachfuhr von außen höchstens ein, zwei Tage reichen. Es gab nur eine Rettung — sie musste zum Basislager zurück, musste Nahrung und Wasser auftreiben und vielleicht noch einen funktionierenden Roboter, um dann nach Yambuku zurückzukehren.
Ressourcen, dachte Zoe. Möglich, dass sie nicht besonders klar dachte; der Kopf tat entsetzlich weh, wo der Gräber zugeschlagen hatte, und als sie nach der Schläfe tastete, fühlte sie eine mächtige Beule unter der Membran. Ressourcen: Was hatte sie, das ihr von Nutzen sein konnte? Telemetrie, Kommunikation… die Vorstellung, mit Tam Hayes zu reden, war so verführerisch, dass ihr die Tränen kamen. Doch als sie ihr Kommunikationsprotokoll aufrief, war keine Trägerwelle da — nichts von Yambuku, weder über Breit- noch über Schmalband, was hieß, dass ihr Equipment beschädigt war. Oder das von Yambuku. Oder der Erdhügel blockierte jeden Funkkontakt.
Sie fragte sich, wie tief man sie unter die Oberfläche geschafft hatte. Kein Mensch wusste, wohin diese Tunnel führten. In der Nähe der Erdhügel hatten ferngesteuerte Roboter ein paar echographische Experimente durchgeführt, die gezeigt hatten, dass die Labyrinthe ausgedehnt und vielfältig miteinander verbunden waren. Das Graben mochte seit Jahrhunderten im Gange sein, mochte Kilometer tief unter die Oberfläche führen… Stop. Ein unzulässiger Gedanke. Panik verdichtete sich zu einem Kloß im Hals. Die Decke ihrer Kammer konnte einen Kilometer oder einen Zoll weit unter Tage liegen. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkt, und sie verbot sich, weiter darüber nachzudenken.
Einen Moment lang hielt sie die Luft an und lauschte. War sie wirklich allein? Ein Tunnel, nicht viel breiter als ihre Schultern, war der einzige Zugang zu diesem blinden Höhlenende. Der Schein der Glühwürmchenlampe reichte kaum einen Meter weit; sie sah nur, dass der Tunnel kreisrund war und leicht anstieg — in einem Winkel von vielleicht zwanzig Grad. War da was? Doch die Stille war vollkommen. Ein Gräber, der in diesen Tunnels unterwegs war, wäre zu hören gewesen; dafür hätte der steinharte Boden unter den Klauen gesorgt. Nichts dergleichen. Gut.
Vielleicht war es Tag, dachte Zoe, und die Gräber waren auf Nahrungssuche. Sie versuchte die Uhrzeit abzurufen, doch das Hornhautdisplay belebte sich nicht.
Schon möglich, dass es den Schlag nicht überstanden hatte.
Sie zauderte einen oder hundert Augenblicke, argwöhnisch die Kriechröhre beäugend, gegen deren Enge sie ihre vergleichsweise geräumige Bleibe eintauschen sollte. Doch dann begann die Glühwürmchenlampe zu blaken — und alles, dachte Zoe, alles war besser als noch mehr Finsternis.
Sie pflückte eine andere Lampe vom Gürtel und schnippte und schnippte, aber sie ging nicht an. Sie war kaputt.
Mit bebenden Fingern befreite sie die nächste Lampe aus dem Gürtel. Als die winzige Lichtquelle zum Leben erwachte, entfloh Zoe ein Seufzer der Erleichterung.
Jetzt blieben ihr noch fünf Lampen. Was, wenn die alle nicht mehr funktionierten?
Los, dachte Zoe. Es wird Zeit.
Die Glühwürmchenlampe in der Rechten, wälzte sie sich auf den Bauch. Das Albinomoos lag kühl unter der Membran. Sie musste sich Arme voran bewegen, eine Mischung aus sich Winden und Kriechen, sich mit den Stiefeln Widerstand verschaffend. Was, wenn sie sich in diesem Labyrinth verirrte? Und alle Glühwürmchenlampen verbraucht waren? Konnte sie in dieser Enge überhaupt eine neue Lampe aus dem Gürtel nehmen?