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Nein, nicht ohne sich den Arm auszukugeln.

Sie wich in den Blindsack zurück, nahm den Werkzeuggürtel ab und streifte ihn über die Schulter. So konnte sie, falls nötig, die restlichen Lampen erreichen.

Fünf Stück. Etwa sechs oder sieben Stunden Licht, wenn alle funktionierten. Und dann…?

Noch ein unzulässiger Gedanke. Sie verscheuchte ihn und wand sich erneut in den Tunnel.

Sie hatte Platz, sich über die Ellbogen zu ziehen, und robbte unter Einsatz von Stiefeln und Knien Zoll um Zoll voran. Sollte die Membran an Knien und Ellbogen diese Strapaze heil überstehen, dann war das nur dem bleichen, nicht enden wollenden Moosteppich zu verdanken.

Die Glühwürmchenlampe erhellte einen tanzenden ellipsenförmigen Bereich in knapp zwei Metern Entfernung. Ich brauche einen Plan, dachte Zoe. (Vielleicht kam das eine oder andere über ihre Lippen. Sie versuchte zu schweigen, doch der Abstand zwischen Gedanke und Wort war geschrumpft, und so hörte sie gelegentlich das Echo des eigenen heiseren Flüsterns… Sie hatte Angst sich zu verraten.)

Ich brauche einen Plan, dachte sie wieder. Sie war in einem Labyrinth und irgendwo war der Minotaurus. Wann immer sich der Tunnel gabeln sollte, sie würde den ansteigenden Ast wählen, und falls es diesen Unterschied nicht gab, den rechten. So würde sie schließlich zur Oberfläche oder (da sei Gott vor) rückwärts aus der Sackgasse heraus und zur einzigen Alternative zurückfinden.

Das funktionierte auch dann, (da sei Gott abermals vor) wenn alle Lampen aufgebraucht waren. Das funktionierte selbst im Stockdunkeln.

Die Dunkelheit kehrte zurück, als auch die momentane Lampe zu blaken begann und erstarb. Zu früh, dachte Zoe. Wie weit war sie gekommen? Es gab keinen Anhaltspunkt. Weit, hatte sie den Eindruck, aber nicht weit genug. Der Tunnel hatte sich nicht verzweigt, nicht ein einziges Mal. Oder — grausiger Gedanke — die Gräber gruben neue Tunnels und versiegelten alte; vielleicht kam sie an eine Stirnwand und…

Stop. Der Gedanke war unerwünscht.

Sie fingerte eine neue Glühwürmchenlampe aus dem Gürtel und schnippte. Als der ovale Schein aufflackerte, fiel ihr ein Stein vom Herzen.

Eine Stunde Licht weniger.

Sie verscheuchte auch diesen Gedanken.

* * *

Eben hatte sie sich lebhaft ausgemalt, wie es sein würde, wieder in Yambuku zu sein — die Membran herunterschälen, heiß duschen, Haare waschen, essen, Sprudelwasser aus einem hohen Kristallglas trinken — als sie an eine Abzweigung kam.

Die Erste. War es denn die Erste? In diesem kleinen ovalen Lichtschein fiel es schwer, die Zeit abzuschätzen und zwischen eingebildeten und wirklichen Ereignissen zu unterscheiden. Sie hatte diesen Plan gefasst, hatte sie ihn auch schon in Angriff genommen? Egal, dachte Zoe, halte dich an den Plan. Stieg der linke Ast an oder sollte sie sich rechts halten?

Schwer zu sagen.

Sie hielt inne, hoffte auf eine Eingebung. Wehte aus einem der Tunnel ein Lufthauch? Nein. Überall die gleiche abgestandene, stinkende Luft, kaum genug, um ihre Lunge zu füllen. Kein Laut. Stieg nicht der rechte Tunnel unmerklich bergan? Das gab den Ausschlag.

* * *

Sie rannte in Theos Arme.

»Eines meiner Kinder hat überlebt.«

Sie lief in die Arme von Tam Hayes…

Sie wachte unter Schmerzen auf. Arme steif, Beine steif, der Kopf pochte. Eingepfercht. Und blind…

Nein, das war die Finsternis.

Die Finsternis.

Sie war eingeschlafen.

Sie verwünschte ihre Nachlässigkeit — sie hatte kostbare Zeit vergeudet — und tastete nach der nächsten Glühwürmchenlampe. Während sie den Gürtel befingerte, hielt sie die Augen fest geschlossen, denn mit offenen Augen wäre es keinen Deut heller gewesen und mit geschlossenen konnte sie sich einbilden, die Dunkelheit selbst herbeigeführt zu haben. Vielleicht aus Müdigkeit. Obwohl sie nicht schon wieder einschlafen durfte.

Sie schnippte die Lampe an.

Das war schon besser. Es war zwar nur der endlose Tunnel zu sehen, aber das Licht war ein Segen.

Sie kroch ein paar Meter voran — es hätten auch zwanzig oder hundert sein können. Es gab keine Bezugsgrößen mehr, keine zeitlichen und keine räumlichen. Vielleicht hatte sie schon einen weiten Weg zurückgelegt, vielleicht war sie erst ein paar Schritt weit vom ursprünglichen blinden Stollenende entfernt.

Unzulässig.

Der Tunnel schien sich zu erweitern. Endlich tat sich etwas… Die Woge von Hoffnung war berauschend. Sie wappnete sich dagegen, doch Hoffnung war wie Panik, unbändig, eine gewaltige Kraft, die nicht länger von einem Thymostaten in Schach gehalten wurde.

Der Thymostat, überlegte Zoe, war auch eine Art Membran gewesen — eine weitere Barriere zwischen ihr und der Welt. Eine Barriere gegen die Viren der Panik, der Hoffnung, der Liebe und der Verzweiflung. Diese Membran hatte sie eingebüßt. Sie war jetzt nackt und infiziert.

Der Tunnel erweiterte sich immer mehr, wurde zu einer großen Höhle. Zoe füllte sie mit dem Geräusch ihres mühsamen Atmens. Sie hob die Hand und brachte das Licht zur Geltung. Hob den Blick und sah…

… das Ende des Stollens.

Dieser Hohlraum war lediglich größer als der erste.

* * *

Für ein paar kostbare Minuten ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Der Anzug würde sie schon recyceln — idiotischer Gedanke.

* * *

Stoßweise schluchzend kroch sie bis an die Stelle zurück, wo sich der Tunnel gabelte.

Wie viele Lampen waren noch übrig? Auf ihr Gedächtnis war kein Verlass; sie war gezwungen anzuhalten und mit den Fingern nachzuzählen. Eins, zwei, drei, vier. Was bedeutete, dass Stunden vergangen waren, seit sie die ursprüngliche Kammer verlassen hatte. Mit ein bisschen Verstand und wenn sie nicht eine halbe Ewigkeit verschlafen hätte, hätte sie die Zeit vermutlich berechnen können.

Sie brauchte einfach zu lange. Sackgassen kosteten Kraft und Zeit.

Sie dachte ans Freie. Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie die Luft schmecken konnte. Himmel, dachte Zoe. Ja, und Regen. Und Wind.

Von vorne, wo die Abzweigung war, kamen schwache Geräusche. Hatte sie einen Ausgang verpasst? Geräusche von draußen? Sie musste vorsichtig sein. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen. Sie reckte den Kopf in den Nachbartunnel.

Wo sie dem kühlen, schwarzen Blick eines Gräbers begegnete.

* * *

Sie ließ die Glühwürmchenlampe nicht los, selbst als der Gräber ihr nachsetzte und sie bei den Fesseln packte.

Der Alte war es jedenfalls nicht. Der Name war absurd. Der Gräber war nicht mehr als ein Tier, vielleicht auf der Stufe von Insekten, lang und allzu geschmeidig in dieser engen Röhre; dünner, biegsamer Leib; riesige, kohlschwarze, schrecklich flinke Augen; Klauen, die zupackten wie gehärtete Stahlklammern. Wie hatte sie in diesen Kreaturen auch nur den schwächsten Abglanz von Menschlichkeit vermuten können? Sie waren brutal, nicht unbedingt böswillig; ihr Verstand arbeitete in fremden, nicht menschlichen Bahnen; was immer sie für Beweggründe hatten, sie würden ihr verschlossen bleiben; Gräber und Menschen lebten in verschiedenen Welten, buchstäblich wie sprichwörtlich.

Der Gräber schleifte sie in einen anderen Blindstollen — nein, mein Gott, es war derselbe, aus dem sie geflohen war; der mit dem Gespinst an der Wand — und wälzte sie auf den Rücken.

Sie hielt immer noch die Lampe fest. Ein winziger Funke Normalität. Er schien den Gräber nicht zu stören.

Sie schloss die Augen, machte sie auf.