Выбрать главу

Der Gräber rückte ihr bedrohlich nahe. Vermutlich betrachtete er sie, auch wenn seine Augen so leer waren wie zwei schwarze Ölblasen.

Sie erwiderte den Blick. Unter ihrer Panik kam eine grimmige und gänzlich unerwartete Ruhe zum Vorschein, ein emotionaler Gleichmut, der aus Erleichterung und Angst bestand. Eine Art Vortod — denn so viel schien festzustehen: Sie sah dem Tod ins Auge.

Der Gräber setzte ihr eine Kralle auf die Brust — genauer: auf ihr Brustbein.

Sie spürte den Druck — es tat weh, so weh als müsse die Stelle gleich bluten.

Dann begann der Gräber die Membran aufzuschlitzen und wie bleiche, abgestorbene Haut herunterzuschälen.

Neunzehn

Alle Wege führen nach Rom, dachte Kenyon Degrandpre, und hier draußen am Rand der menschlichen Diaspora bin ich Rom, und alle schlechten Nachrichten weltweit kamen anmarschiert, die Reihen dicht geschlossen…

Jede Krise erforderte eine angemessene Lösung. Die festgeschriebenen Notstandsprotokolle hatten sich als unzulänglich erwiesen.

Die Evakuierung von Marburg zum Beispiel. Klar, der leitende Manager war berechtigt, die Evakuierung zu fordern. Ebenso klar war, dass er, Degrandpre, mit dem begrenzten Platz an Bord der IOS haushalten musste und nicht allzu viel für eine ausgedehnte Quarantäne von fünfzehn Leuten opfern konnte, von denen jeder ein potenzieller Träger von virulenten Mikroorganismen war. Er löste den Konflikt, indem er die Marburger in einem freien Werkstattkomplex unterbrachte, der normalerweise für den Transfer von Turing-Monteuren benutzt wurde. Primitive, kalte und unbehagliche Quartiere, doch er ließ die Kaverne mit Lebensmitteln und Wasser für eine Woche bevorraten und mit Schlafmatten ausstatten und fand, dass er durchaus großzügig handelte. Er ließ außerdem die Zugänge doppelt versiegeln und erklärte den Komplex pro tempore zur Gefahrenzone fünften Grades.

Und in den seltenen freien Momenten, die er hatte, Momenten der Stille — der Stille eines fallenden Gegenstands, zum Beispiel eines Kristallpokals, der von einem Tablett gerutscht ist und noch nicht den Boden erreicht hat — in solchen Momenten, da fühlte er sich bemüßigt, den für die Erde bestimmten Partikelpaar-Verkehr zu durchforsten, um sicherzustellen, dass nicht ein Jota der gegenwärtigen Krise an die falsche Adresse geriet.

Zum Beispiel dieser paranoide Wortschwall eines Dieter Franklin aus Yambuku, seines Zeichens Planetologe:

Es mehren sich die Beweise für einen Informationsaustausch zwischen physisch nicht miteinander verbundenen lebenden Zellen. Ein solcher Mechanismus würde eine Symbiose gestatten, die den gewöhnlichen Evolutionsprozess überlagert, ein Mechanismus, der vielleicht so bedeutsam ist wie die uralte terrestrische Symbiose zwischen Einzellern und primitiven Mitochondrien…

Was immer das hieß.

Die zunehmende Effizienz von bakteriellen Attacken gegen Dichtungen der Bodenstationen und die Penetration angeblich inaktiver Barrieren (ein Phänomen, an dem enorm weit voneinander entfernte Organismen teilhaben, die ansonsten in keinem Zusammenhang stehen) führte zur Thematisierung intrazellulärer Quantenereignisse wie…

Gestrichen. Bei ›bakterieller Attacke‹ würden zu Hause die Palmtops heißlaufen. Nicht ganz ohne Gewissensbisse aber mit der kühlen Obsession eines Mannes, der sich der grimmigen Aufgabe verschrieben hat, sein eigenes Überleben zu organisieren, löschte Degrandpre den kompromittierenden Abschnitt.

Die Vermehrung strukturell überflüssiger Mikrotubuli in einer Vielzahl isischer Einzeller könnte letztlich diesen Anschein von Fernwirkung erklären. Im menschlichen Hirn vermitteln solche Strukturen Bewusstsein, indem sie als Quantenapparate fungieren, wobei praktisch die Unbestimmtheit eines einzelnen Elektrons ausgedehnt und zum zentralen Mechanismus des Wirbeltierbewusstseins gemacht wird. Erkenntnisse aus vorbereitenden Laborarbeiten (siehe Anhang) legen nahe, dass isische Einzeller nicht nur einen ähnlichen Quanteneffekt unterhalten, sondern während der Mitose in der Tat eine dem Zwillingsstatus entsprechende Partikelpaar-Kohärenz erzeugen und erhalten.

Das Ganze kam ihm verschroben und irgendwie zersetzend vor, auch wenn er sicher nicht qualifiziert war, den wissenschaftlichen Gehalt zu beurteilen.

Man mag schon jetzt Vermutungen über die Möglichkeiten anstellen, die in einem pseudoneuralen Netzwerk liegen, das alle isischen Einzeller miteinander verbindet, eine Biomasse, die (so man die ozeanische Materie und die mineralbindenden Bakterien in der Planetenkruste dazunimmt) von wahrhaft Schwindel erregender Dimension ist. In den zunehmend erfolgreichen biologischen Attacken auf die Bodenstationen könnte man demzufolge die autonome Reaktion auf die Gegenwart eines Fremdkörpers sehen, wobei die im salzigen Milieu des Meeres entwickelten und zunächst nur gegen die marine Forschungsstation eingesetzten Durchbruchsstrategien allmählich aber immer erfolgreicher für den Einsatz gegen die landgestützten Außenposten modifiziert wurden…

Nein, das Maß war voll.

Eine hereinkommende Nachricht machte sich akustisch bemerkbar — höchste Priorität, was sonst? Degrandpre veranlasste eine rasche, globale Löschung des aktuellen Dokuments. Dieter Franklins Spekulationen wurden augenblicklich aus dem RAM, dem Postausgang und dem Zentralspeicher gelöscht. Selbstverständlich wurde kein Wort davon zur Erde übertragen.

* * *

Die schlechte Nachricht — und diesmal war sie sehr schlecht — besagte, dass Corbus Nefford Fieber bekommen hatte.

Degrandpre redete mit seinem medizinischen Seniordirektor über eine visuelle Gegensprechanlage, die in natürlicher Größe abbildete. Eine Palmtopverbindung wäre unter diesen Umständen zu unpersönlich gewesen. Es verstand sich von selbst, dass er nicht einmal beiläufig die Sicherheit seiner gegenwärtigen Befehlszentrale erwähnte, die gleich bei den aeroponischen Gärten lag. Er verkniff es sich auch zu erwähnen, dass er bereits vier neue Vorkehrungszonen eingerichtet hatte, die vom Shuttledock ausgehend beide angrenzenden Kapseln und selbstverständlich die Turing-Transfer-Bereiche umfassten.

Er war entsetzt beim Anblick von Corbus Nefford. Der Arzt lag festgeschnallt auf einer fahrbaren Krankenliege, auf der einen Seite ein Kochsalztropf, auf der anderen Ken Kinsolving. Ferngesteuerte Roboter scharwenzelten um die Liege, beschnupperten Neffords Handgelenke mit biotischen und chemischen Sensoren. Nefford hatte insistiert, er habe Kenyon Degrandpre etwas Wichtiges zu sagen, und zwar nur und ausschließlich Degrandpre persönlich. Im Moment schien er nicht einmal in der Lage, etwas Unwichtiges zu sagen.

Wir sind alle verloren, raunte ein Teil von Degrandpre.

Er bot sein ganzes diplomatisches Geschick auf. Er wollte nicht, dass Nefford sah, wie er vor dem Bildschirm zurückzuckte.

»Was Sie nicht übersehen dürfen«, brachte Nefford mühsam heraus, »ist, dass es so lange dauert…«

Die Ätiologie der Krankheit oder Neffords Tod? Beides schleppend, beides qualvoll. »Ja, reden Sie weiter«, sagte Degrandpre. Alles wurde vom Zentralspeicher der IOS aufgezeichnet: zur späteren Verwendung. Vorausgesetzt, es gab dann noch jemanden, der Verwendung dafür hatte.

»Diese Krankheit ist nicht so wie die anderen isischen Infektionen. Nicht so virulent. Sie hat eine Inkubationszeit. Das heißt, es handelt sich wahrscheinlich um einen einzelnen Organismus. Gefährlich und hinterhältig, aber potenziell zu beherrschen. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe. Lassen Sie diese Frage weg, Corbus.«

»Gefährlich, aber potenziell zu beherrschen. Aber die Quarantäne funktioniert nicht. Wir haben es hier mit etwas sehr Kleinem zu tun, ein Prion vielleicht, ein DNS-Stückchen in einer Proteinhülle, vielleicht so winzig, dass es einfach durch die Dichtungen tunnelt…«