»Wir werden alles berücksichtigen, Corbus.« Falls wir je dazu kommen.
»Manager«, keuchte Nefford, der sich zwischen den Silben wie ein Siphon anhörte, in dem sich eine Luftblase gebildet hatte. »Darf ich ›Kenyon‹ sagen? Wir sind doch Freunde, hm? Jeder von uns steht doch an der richtigen Stelle im Konzern?«
Wohl kaum. »Aber sicher«, sagte Degrandpre.
»Vielleicht muss ich ja nicht sterben.«
»Gut möglich.«
»Wir können die Krankheit beherrschen.«
»Ja«, sagte Degrandpre.
Nefford schien noch etwas sagen zu wollen. Doch frisches, rotes Blut sickerte ihm aus der Nase. Merklich enttäuscht schloss er die Augen und wandte das Gesicht ab. Kinsolving unterbrach die Verbindung.
»Grässlich«, murmelte Degrandpre. Er schien nicht loszukommen von dem Wort. Es klebte ihm auf der Zunge. »Grässlich. Grässlich.«
Nefford sollte Recht behalten. Wartungsroboter berichteten von mikroskopisch kleinen Löchern in den Dichtungen zwischen ursprünglicher Quarantäne und Umgebung.
Das war der wirkliche Horror, dachte Degrandpre, dieses Durchbrechen von Barrieren. Zivilisation war letztlich ein Unterteilen mit Wänden und Zäunen, um das chaotisch Wilde in kultivierte Zellen menschlicher Provenienz zu zerlegen. Wildwuchs übermannt den Garten, und die Vernunft schaut machtlos zu.
Zum ersten Mal begriff er, oder bildete sich ein zu begreifen, was es mit der Religiosität seines Vaters auf sich hatte. Die Familien und ihre Konzerne hatten die politische und naturwissenschaftliche Wildnis der Erde hübsch aufgeteilt und neurotisch geordnet, sodass jede Person und jedes Ding und jeder Prozess einen angemessenen Orbit im sozialen Planetarium fand; doch außerhalb der Familienwände dräute nach wie vor das Wilde: Proletariat, Marsianer, Kuiper-Clans; die Krankheiten, die auf den Märkten der Unterprivilegierten ausgebrütet wurden; Sieger blieben immer der Tod und die grausame Unermesslichkeit des Universums. Der verstohlene Islam seines Vaters war letztlich ein Willensakt gewesen, ein Ordnenwollen der großen Leere durch eine Geschichte und eine Hierarchie, ummauerte Gärten des Guten und des Bösen.
Die Tragödie von Isis war die Tragödie von Mauern, die nicht hielten, was sie versprachen. Das betraf nicht bloß die physischen Mauern. Er dachte daran, dass Corbus Nefford ihn als seinen ›Freund‹ bezeichnet hatte. Er dachte an die hygienischen Lügen, die er täglich zur Erde übertrug.
Vergebliche Liebesmüh. Es war nicht mehr viel, was jetzt noch zu retten war. Vielleicht nur sein Leben. Vielleicht nicht einmal mehr das.
Eine Lagebesprechung mit dem aufgeblasenen, dicken Chefingenieur Todd Solen:
»Meines Erachtens«, verkündete Solen, »haben wir nur eine Chance. Wenn wir keine physischen Barrieren zwischen uns und dem tödlichen Agens errichten können, müssen wir die Module Drei und Sechs stilllegen, die Schotts dicht machen und die Atmosphäre evakuieren. Also einen Sektor reinsten Vakuums zwischen uns und die Krankheit schieben. Eine Barriere, die ihren Zweck erfüllen müsste, immer vorausgesetzt, das so genannte Virus hat nicht schon die ganze IOS erobert.«
»In Modul Sechs sind die Marburger.«
»Ja sicher. Sie werden sterben, wenn wir die Luft ablassen. Aber sie werden ebenso sicher sterben, wenn wir es nicht tun. Mal abgesehen von der Krankheit — ohne Zugang zu unseren Turing-Bereichen oder den Haupt-Shuttledocks, ohne Ersatzteile oder einen vernünftigen Wartungssektor, mit einem improvisierten Wasserkreislauf und einer Lebensmittelversorgung, die ausschließlich von unseren Sonnengärten abhängt, ist die IOS eine unhaltbare Festung. Wir können so viele Menschen retten, wie auf eine Higgs-Schleuder passen. Nicht einen mehr.«
Das Gefühl, auf der ganzen Linie versagt zu haben, ist eine lähmende Erfahrung. »Ist es schon soweit?«, fragte Degrandpre.
Der Ingenieur schwitzte aus allen Poren. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Mit allem Respekt, Manager, ja, es ist so weit.«
Ich werde, dachte Degrandpre, mich nicht zu dieser Entscheidung nötigen lassen. Er sagte: »Es ist heiß hier.«
Solen zwinkerte mit den hervorquellenden Augen. »Naja — wir recyceln Wasser aus den Kühlrippen. Mit Thermostase ist nicht mehr viel.«
»Sehen Sie zu, dass es hier drinnen kühler wird, Mr. Solen.«
»Ja, Sir«, sagte Solen kleinlaut.
Zu heiß, zu trocken. Die IOS schien zu fiebern.
Aaron Weber, der leitende Manager von Marburg, zurzeit mit seiner fünfzehnköpfigen Belegschaft im Turing-Transfer-Bereich der IOS, bekam die Hitze auch zu spüren.
Die Luft war nervtötend trocken und ließ die geräumige, aber nur dürftig beleuchtete Stahlkaverne klaustrophobisch eng erscheinen.
Bei der Hitze zu schlafen, erwies sich als schwierig. Die Hitze trocknete Kehle und Nase aus, machte Kleidung zum Ärgernis und Decken unerträglich. Etliche Wissenschaftler aus dem Kuiper-Gürtel zogen sich aus und dachten sich nichts dabei, doch Weber hatte Hemmungen. Er musste an seinen Studentenschlafsaal in Kim il Sung denken, wo in den langen Wintern der sengend heiße Luftstrom aus den Klimaanlagen seine Feuchtigkeit an die eisverkrusteten Fensterscheiben verlor. Nasenbluten in der Nacht, Blutflecken auf dem Kopfkissen. Die einzige Rettung hatte darin bestanden, das Fenster zu öffnen und eine Erkältung zu riskieren.
Komplett angezogen, wie er war, gelang es ihm trotzdem, im langen Schatten eines Frachtmanipulators zu schlafen; nach etwa einer Stunde wurde er durch das Schnarchen seiner Leidensgefährten geweckt und schlief wieder ein…
Und wachte mit einer feinen, kühlen Brise auf der Wange auf.
Er dachte an das Schlafsaalfenster. Schnee rutschte an der Scheibe entlang. Der Luftstrom war wohltuend.
Doch die Luft hier hätte sich nicht bewegen dürfen.
Die Brise frischte auf, wurde zu einem kleinen Hauswind, der mit erstaunlicher Kraft über den Boden des Turing-Bereichs fegte, lose Dinge ergriff, die man aus dem Shuttle geborgen hatte: hier ein Schaumstoffbecher, dort ein Bündel bedrucktes Papier.
Er saß kerzengerade, war hellwach.
Dieses Geräusch? Dieses gedämpfte Pochen? Er kannte es von den Shuttlestarts, obwohl er es noch nie so unmittelbar gehört hatte: So hörte sich die Hydraulik an, die die riesige Luftschleuse öffnete.
Seine Ohren explodierten vor Schmerz, als der Luftdruck jählings abstürzte. Als er den Mund aufmachte, strömte die Luft aus seinem Hals, ein nicht enden wollendes, unfreiwilliges Ausatmen. Er wollte schreien, doch die Lungen kollabierten wie leer geatmete Tüten.
Lampen erloschen ringsherum. Er sah, wie strampelnde Leiber aus der gähnenden Schleuse gerissen wurden. Kein Geräusch mehr. Nur die Sterne, rein und unvermittelt. Das starre nackte Auge. Erstes Licht.
Zwanzig
Der Regen von gestern tröpfelte vom Walddach und machte den Pfad mulchig und glitschig. Tam Hayes bewegte sich vorsichtig. Er hatte sich an das Schmatzen der Schritte in fauliger Biomasse gewöhnt, an das regelmäßige Surren der Servomotoren. Die Geräusche des schweren Biopanzers waren auf befremdende Weise friedvoll.
Den ganzen langen Tag über hatte er nicht mit Yambuku gesprochen, auch wenn das Visierdisplay immer wieder Handshakes registrierte. Das Schweigen war seltsam wohltuend. Stattdessen widmete er sich der trägen und monotonen Aufgabe, den Biopanzer zu steuern, seine Kräfte einzuteilen und die Instrumente zu überwachen. Er wollte den Copper River noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht und wenn möglich überquert haben. Wenn nötig, wollte er in seiner Rüstung schlafen, einfach die Servos anhalten und sein Gewicht der Gelpolsterung überlassen. Aber besser war es, in Bewegung zu bleiben. Was den Biopanzer anging, hatte Dieter natürlich Recht. Hayes traute dem Braten nicht. Früher oder später würde der Panzer auf mehr oder weniger katastrophale Weise versagen.